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werden. Es ist richtig, daß unsere baierische Verfassung gleichsam ein Schatz-
kästlein ist, in dem das köstliche Juwel der bürgerlichen Freiheit über ein
balbes Jahrhundert bewahrt worden ist, unversehrt und unverletzt. Meine
Herren! Nehmen wir dieses Juwel aus dem Schreine der Verfassung und
sügen wir es der Krone unseres großen deutschen Vaterlandes ein! Die ein-
zelnen Blätter einer Pflanze, die den reifen Samen der Zukuuft aus sich
berausgestaltet hat, mögen vergilben, die Pflanze selbst ist damm nicht todt,
sie lebt fort in verjüngter Gestalt, sie ist nicht ganz untergegangen, in er-
neuter Gestalt steht sie wieder auf. Die baierische Verfassung hat nicht um-
senst gelebt, wenn sie das geleistet hat, daß das ihr entnommene Edelreis
die Freiheit auf den mächtigen Schößling der Einheit eingepflanzt worden
ist. Aber hoffen wir, daß dann ein kräftiger Baum erwachse, ein Baum
der Einbeit und Stärke, unter dessen mächtigen Schirm und Schutz sich alle
deutschen Stämme in Freiheit und Eintracht zusammenfinden mögen.
(Braro!)“)
Staatsminister Graf Vray“’): Meine Herren! Im Laufe der Debatte
ist zu verschiedenen Malen des Verhältnisses Deutschlands zur österreichisch-
ungarischen Monarchie gedacht worden. Die Meinungen der Herren gehen
weit auseinander; es stehen sich günstige und ungünstige Anschauungen ge-
genüber. Meine Herren! Ich theile die Hoffnungen der Einen und nicht
die Befürchtungen der Anderen. Schon im Laufe des vorigen Sommers,
der dem Beginn der Verfassungsverhandlungen, war bei den leitenden preußi-
schen Staatsmännern die Absicht vorhanden sich Oesterreich zu nähern; ich
babe darüber in Versailles die bestimmtesten Zusicherungen und Aufschlüsse
erhalten. Es erfolgten einleitende Schritte und endlich der bekannte De-
reschenwechsel. Ich konstatire hiemit, und es ist erfreulich das zu konstatiren,
daß die erste politische Aktion des neuen Deutschen Reiches einer Annäherung
an Oesterreich gegolten hat. Für mich insbesondere als Theilnehmer an den
Verhandlungen und für das Zustandekommen der Verträge selbst war die
Wahrnehmung dieser günstigen Stimmung von hohem Werthe. Wäre die-
selte nicht vorhanden gewesen, wäre im Gegentheile an den Abschluß der
Verträge die Befürchtung geknüpft gewesen, daß er zu einem Zerwürfnisse
wischen Oesterreich und Preußen führen würde, so wäre nach meinem Er-
achten die Sache sehr erschwert gewesen. Ich wenigstens hätte, so lange
dieses Hinderniß bestanden hätte, die Hand zum Abschluß der Verträge nicht
geboten. Denn, meine Herren, was ist ein Krieg gegen Oesterreich? Es ist,
aller Wahrscheinlichkeit nach, zugleich ein neuer Krieg mit Frankreich, das
—— —
bFolgen Frankenberger S. 260, Wülfert S. 278, Kolb S. 288, v. Schlör
296, (79. Sitzung vom 19. Jgnuar 1871), Kolb S. 297, Triller S. 302, Wiesnet
304.
*) St. B. S. 309 r.
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