Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

772 Baiern. Kammer der Abgeordneten. 
sollten, wenn man praktische Politik treiben will. Aber er erzählte uns in 
seiner bekannten Weise, daß an der preußischen Ostseeküste früher die Wenden, 
Kassuben, Obotriten u. s. w. ihr Unwesen trieben; er schilderte uns, nachdem 
er diesen Erkurs in die Geschichte der älteren Zeit verlassen hatte, in sehr 
interessantem Vortrage den Gegensatz zwischen „pulverisirtem Wesen und 
germanischem Wesen“ und stellte sich uns vor als den Repräsentanten 
des ächten — Germanismus. Nach diesem Ausfluge in das Gebiet der 
allerneuesten Geschichte wurden wir in das Mittelalter geführt und erinnert, 
daß einst ein deutscher Kaiser einen baierischen Herzog abgesetzt und dafür 
die Dynastie Wittelebach in Baiern eingeführt hat. Man gab dabei zu ver- 
stehen, wie dieser Vorgang den sichersten Anhaltspunkt für die Vermuthung 
gebe, daß die Dynastie Wittelsbach durch einen neuen Deutschen Kaiser wie- 
der werde beseitigt werden. Es wurde mir freilich nicht ganz klar, inwie- 
weit die Thatsache, daß die Dynastie Wittelsbach durch einen Kaiser in 
Baiern eingesetzt wurde, die Vermuthung sollte begründen helfen, daß der 
neue Deutsche Kaiser die Dynastie Wittelsbach absetzen werde. Man hat 
uns prophezeit, daß wir nach dem Eintritte in das neue Deutsche Reich bald 
in die Lage kommen werden, an der Seite Preußens und Rußlands gegen 
Oesterreich Krieg führen zu müssen. Es hat das der Herr Referent selbst 
prophezeit. Ich habe mich darüber gewundert, weil er vor Jahr und Tag 
uns einmal das Geständniß abgelegt hat, daß er kein Glück mit seinen Prophe- 
zeiungen habe; er hat damals sogar gelobt, er wolle das Prophezeien ganz 
aufgeben. (Heiterkeit.) Man hat uns verschiedene Sätze mitgetheilt, welche 
dieser oder jener Abgeordnete zum Norddeutschen Reichstage bei dieser oder 
jener Gelegenheit gesprochen habe. Unglücklicher Weise citirte man aber stets 
Aeußerungen, die bei Gelegenheiten gemacht wurden, welche mi dem Gegen- 
stande, auf welchen sie jetzt bezogen werden wollten, gar nicht im Zusam- 
menhange stehen. Man hat Sätze aus Hiersemenzel und Thudichum ange- 
zogen, aber mau hat sich dabei stets vergriffen; man hat mit einem Worte 
den Eindruck hervorgebracht, als ob man in großer Verlegenheit sei, Gründe 
zu finden, die man mit einiger Aussicht auf Erfolg in das Gefecht führen 
kann. Mich hat das sehr unangenehm berührt, weil der Gegenstand ein so 
ernster ist, daß ich mir nicht erklären konnte, wie man sich eutschließen mochte, 
mit so kleinlichen Augriffsmittelchen vorzugehen, mit kleinlichen Mittelchen, 
die den Gedanken nicht aufkommen lassen, daß man Geschichte lehren oder 
daß man praktische Politik treiben wolle, sondern die den Eindruck machten, 
daß man historisch-politische Seiltänzerkunststückchen produzire, die um so be- 
denklicher sind, weil dabei nicht nur Derjenige, welcher sie produzirt, seinen 
Hals zu Markte trägt, sondem auch Derienige, der gläubig lange zuschaut. 
(Heiterkeit.) Der Herr Abgeordnete Wiesnet hat uns gestern gesagt, es 
werde durch die Annahme der Verträge eine Scheinmonarchie in Baiern ge- 
schaffen, diese Scheinmonarchie zu erhalten, fühle er keinen Beruf, und wenn 
man die Verträge nicht abwenden könne, dann sei es ihm lieber, Baiern gehe
	        
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