Art. 2. Grundrechte. Reichensperger. 903
nicht mehr verfassungsmäßig geschützt ist, wie es bisheran als nothwendig
anerkannt worden, alles andere desfallsige Freiheits= und Vereinsrecht nur
noch auf thönernen Füßen steht. Allein, meine Herren, wenn es sich denn
wirklich nur um das Interesse der katholischen Reichsangehörigen handeln
möchte, so würden Sie es mir doch vielleicht nicht bestreiten können, daß die
sehr ansehnliche Zahl von Millionen, mit welchen diese Bevölkerung auftritt,
es denn doch nützlich erscheinen lassen köunte, auch zwei sie beruhigende Ar-
tikel in die Reichsverfassung aufzunehmen, nachdem dem Einpfennig-Tarife
eine Stelle in derselben vergsnnt worden ist — und zwar aus ganz guten,
von mir anerkannten Gründen. Ich mache Sie aber vor Allem darauf auf-
merksam, daß man sich in dem allergrößten Irrthume befinden würde, wenn
man annähme, es handelte sich überhaupt bei dieser Frage nur um das
Interesse der katholischen Kirche oder um kirchliches Interesse überhaupt.
Meiner Ueberzeugung nach handelt es sich um ganz etwas Anderes; es
handelt sich in Wirklichkeit um eine eminent politische Frage, um eine
Frage ersten Ranges, und das ist der Hauptgrund, der mich zur Stellung
des Antrages veraulaßt hat. Auch ich theile das allgemeine Vertrauen, daß
wir reaktionäre Maßregeln gegenüber den Rechtszuständen, die seit zwanzig
Jahren sich eingelebt, nicht so leicht zu besorgen haben. Wenn ich trotzdem
den Antrag gestellt, die betreffenden Artikel in die Reichsverfassung aufzu-
nehmen, so geschieht es vor Allem im Interesse der Erstarkung und der Be-
festigung des Deutschen Reiches; es geschieht in dem Interesse, diejenigen
Gegensätze und Gefahren nicht wieder aufkommen zu lassen, die in den
Verhältnissen liegen. Die Frage nach der Stellung zwischen Staat und
Kirche ist ja durch alle Jahrhunderte hindurch eine Frage ersten Ranges
gewesen, und die Formen, unter welchen sie nebeneinander bestehen können,
sind ja längst erprobt und gerichtet. Die Ueberordnung der Kirche über
den Staat, die so oft in auffallend feindseliger Weise in unsercn Volksrer-
tretungen angegriffen wird, war im Mittelalter natumothwendig und berech-
tigt, weil die Kirche der einzige Träger der alten Kultur und der Wissen-
schaft gewesen ist. Als sodann diese Thatsache gerade durch die Thätigkeit
der Kirche und ihrer Organe nicht mehr vorhanden war, — als die Kultur
und die Wissenschaft immer mehr Gemeingut der Nation geworden war,
und in demselben Verhältnisse, als sie es wurde, ist das frühere Verhältniß
ein unmögliches geworden. Die Ueberführung aus dem einen Verhältniß in
das andere ist dann freilich nicht ohne Ringen und Kämpfen vor sich ge-
gangen. Das zeigt ja die Geschichte auf jeder Seite, daß alle derartigen
großen, fundamentalen, ich kann sagen sozialen Umwälzungen nicht durch
einen Federzug auf dem Papier vollzogen werden, — sie gehen stets durch
mächtige Konrulsionen hindurch und zum Abschluß. Allein diese Ueber-
ordnung der Kirche hat aus den Gründen, die ich angedeutet, nicht blos ihr
Ende genommen, sondern sie ist kraft der Macht der Gegensätze mit einer
ähnlichen Naturnothwendigkeit in ihr Gegentheil umgeschlagen: die Kirche