Art. 2. Grundrechte. Treitschke. 907
Herren dort im Centrum pflegen sich zu beschweren, sie seien eine gedrückte
Minderheit. Nun, meine Herren, wenn dics wahr ist, so muß ich wenigstens
sagen, daß die Herren ihre gedrückte Stellung mit einem sehr geringen Maße
von christlicher Geduld ertragen. (Große Heiterkeit.) Schon zum zweiten
Male versuchen sie eine Sonderstellung hicr im Hause einzunehmen. Lassen
Sie mich, meine Herren, soweit es die Kürze der Zeit erlaubt, auf den Inhalt
des Antrages der Herren Reichensperger und Genossen eingehen. Da bin ich,
obgleich ich n icht zu den Verehrern der Grundrechte gehöre, doch vollständig
der Meinung des Herrn Schulze. Wenn Herr Reichensperger und seine
Freunde uns diese armen 6 Artikel als die Grundrechte der Deutschen Nation
ausgeben, dann bieten sie der Nation einen Stein anstatt des Brodes. (Leb-
hafte Zustimmung.) Ist das, merne Herren, die magns charta der deutschen
Nation, sind das die „Rechte der Deutschheit“, von denen der Frhr. v. Stein
auf dem Wiener Kongresse gesprochen hat? Selbst in der Frankfurter Bun-
desrerfassung war von den wirklichen Grundrechten der deutschen Nation noch
etwas mehr die Rede, als in diesen 6 Artikeln. Warum haben Sie aus den
Grundrechten der preußischen Verfassung gerade diese wenigen herausgesucht?
Warum fehlt in Ihren Grundrechten ein Artikel, der mir mindestens sehr
am Herzen liegt? warum haben Sie nicht beantragt: Die Wissenschaft und
ihre Lehre ist frei!? — (Lebhafter Beifall.) Ein Grundsatz, der namentlich
in die Fakultäten der katholischen Theologie eingeführt von großem Segen
sein würde. (Zustimmung.) Warum haben Sie nicht beantragt jenen Artikel
der preußischen Verfafsung, welcher bestimmt, daß die Cirilehe bestehen soll?
— (Lebhafter Beifall.) Es ist das eine ganz willkürliche, nach einem System,
dessen Gründe ich nicht kenne, getroffene Auswahl aus den Grundrechten der
Freußischen Verfassung. Nun freilich haben die Herren in den Motiven ihres An-
trages die Gründe angegeben, welche sie gerade zur Auswahl dieser Grundreckte be-
wogen haben. Sie sagen: da Nr. 16 des Artikels 4 der Reichsverfassung
die Angelegenheiten der Presse und der Vereine der Bundesgesetzgebung unter-
stellt, so liegt die Gefahr vor, daß die Presse und die Vereind bedingungslos
der Reichsgewalt hingegeben werden. Nun, meine Herren, ich glaube, so
schwarzsichtig werden wenige hier im Hause sein. Ich meine, es gibt sehr
handgreifliche Bürgschaften dafür, daß Kaiser und Reich ihre Gewalt gegen
Presse und Vereine nicht mißbrauchen. Mustern Sie doch, meine Herren, die
Vertreicr des hohen Bundesraths uns hier gegenüber. Sie finden da von
dem Vertreter des Großherzogthums Baden bis herüber zu dem Vertreter des
Fürstenthums Reuß—ich weiß nicht, welcher Linie — so ziemlich jede Schattirung
des Liberalismus und des Nichtliberalismus vertreten. Sollte es so leicht sein, eine
so vielkopfige Versammlung von 25 verschiedenen Staaten zu Gewaltstreichen gegen
die Rechte der deutschen Nation zu mißbrauchen? Es ist ja kein Fürst Met-
ternich mehr unter uns, der uns sagen könnte, eine im Dunkeln schleichende
Partei bedrohe die Sicherheit der Throne. Wir haben in diesem Kriege,
Fürsten und Stämme, einträchtig zusammengestanden. Jede deutsche Dynastie