916 I. Session des deutschen Reichstages.
folgende: das landesherrliche Kirchenregiment zu beseitigen, sei eine politische
Unmöglichkeit — ich wiederhole: eine politische Unmöglichkeit —, ferner: von
ihm seien alle Reformen, wie die Kirchengeschichte lehre, ausgegangen (ich
hüte mich wohl, zu untersuchen, in wie weit das behauptet werden darf;
Herr Professor Bluntschli hat es aber gesagt) in Baden zumal habe
der Großherzog sehr viel für die Kirchenreform gethan; die Konfistorien
seien ein Generalstab, dem es an einem guten Generalstabs-Chef mangele,
sie brauchen einen Fürst Bismarck oder einen Graf Moltke; die Prinzipien-
reitereien in Betreff der Ausführung des Artikels 15 gehören in die Schule,
aber nicht in das politische Leben; man müsse nehmen, was man bekommen
könne. So weit Herr Bluntschli. Das sind gefährliche Grundsätze. Ich
glaube nicht, daß Männer der wahren Freiheit diesen Grundsätzen huldigen
können. Ich glaube, daß das das Gegentheil von dem ist, was man im
Jahre 1848 und im Jahre 1850 in den vorgelegten Verfassungsbestimmungen
anerkannt hat. Ich glaube, daß diese Grundsätze ein Aufgeben, eine Art
Verzweiflung an der wahren Freiheit sind. Sie gehen von dem Bestreben
aus, von oben herab die Sosteme, welche man sich nun einmal entworfen
hat, einzuführen, weil man sie durch die wahre Freiheit nicht verwirklichen
kann. Das bedeutet diese Zusammenstellung der Konsistorien mit einem
Generalstab in Verbindung mit der Nennung solcher Namen, die dazu noth-
wendig wären, um die Jdeen des Herrn Professor Bluntschli zur Ausführung
zu bringen. Wollen Sie dies System annehmen oder es verwerfen? — das
ist die Frage! Ich bitte Sie, wohl darauf zu achten. Hierüber müssen Sie
sich entscheiden! (Sehr wahr!) Wer glaubt, daß von jetzt an Deutschland
bezüglich der Religion von Konsistorien geleitet werden müsse in der Ant,
wie die Generalstäbe die Armee befehligen, und daß das im Interesse der
Freiheit sei — habeat sibi! Meine Meinung ist es wahrlich nicht! Und wert
dagegen glaubt, daß auch diese Freiheit eine Freiheit des deutschen Volkes
sein müsse, daß die Religion nicht von Staats wegen regulirt werden dürfe,
und daß namentlich auch das Volk, welches dein christlichen Bekenntnisse an-
hängt, das Recht hat, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen, der muß,
wie mir scheint, wenn er konsequent sein will, für unsern Antrag stimmen.
Das, was der Herr Abgeordnete Treitschke also für einen Fortschritt betrachtet
auf dem Wege der Freiheit, das halte ich für den allerkolossalsten Rückschritt
auf dem Wege der Freiheit, ich halte es für einen Akt der Desperation an
den Grundsätzen der Freiheit. (Sehr wahr! rechts.) Der Herr Abgeorduete
Treitschke hat ferner gesagt, die Erfahrung habe ja gelehrt, daß seit Erlaß
dieser Verfassungsbestimmungen unzählige Streitigkeiten entstanden seien.
Nichts ist unrichtiger wie das. s sind seitdem vielmehr — und dadurch
haben sich die Verfassungsbestimmungen bewährt, dadurch hat sich bewährt,
daß alle Die Recht gehabt haben, die seit zwanzig Jahren im preußischen
Abgeordnetenhause von der einen wie von der anderen Seite — von der katbo-
lischen wie von der protestantischen Seite — für diese Verfassungsbestimmungen