924 I. Session des deutschen Reichstages.
Staatsgewalt nach eigenem Gutdünken, nach eigener Willkühr neu geregelt,
und daß das Kirchenwesen Veränderungen unterworfen werde, welche dem-
selben durchaus fremd sind, und welche dasselbe gar nicht ertragen kann.
Denn, meine Herren, was will denn der Redner sagen mit dem „Staat,
wie wir ihn brauchen?" Er meint wohl ohne Zweifel einen Staat, wie er
jetzt von gewissen Staatörechtslehrern vertheidigt wird. Ich will Sie auf-
merksam machen, meine Herren, auf ein Staatsrechts-Handbuch, das in
Südde tschland sehr bekannt und verbreitet ist, vielleicht auch in Nord-
deutschland, wo direkt der Satz ausgesprochen ist: vor der Staatsgewal#t
gilt das Wort „nan muß Gott mehr als den Menschen gehorchen,“
nicht! — wo direkt der Satz ausgesprochen worden ist, daß die Staatsge-
walt auf irgend eine höhere Autorität schlechterdings keine Rücksicht zu
nehmen habe. Wenn das richtig ist, wenn der Satz, wie mir erklärt worden
istt, richtig ist, dann folgt daraus, daß das ganze Gebiet der Moral jeden
Augenblick durch die Staatsgewalt verändert werden kann, (große Unruhe)
und gegen eine solche Veränderung, gegen solche Eingriffe der Staatsgewalt
muß ich mich entschieden verwahren. Das, meine Herren, aber kann nicht
anders vermieden werden, als wenn Sie die Religionsgesellschaften f rei-
stellen. Sie erreichen aber dadurch noch ctwas Anderes, was nicht minder
von Bedeutung ist. Es ist bereits vorhin bemerkt worden, daß die Frei-
stellung der Religionsgesellschaften ein Schritt zur Freiheit sei. Ja, meine
Herren, es ist ein Schritt, und nicht blos ein Schritt sondern ich sage es
ist die einzige dauernde, kräftige Bürgschaft gegen Vergewaltigung der Frei-
heiten überhaupt. Denn, meine Herren, wer einigermaßen den Gang der
Dinge, die Entwickelung der einzelnen Reiche und Länder kennt, der wird
wissen, daß zu allen Zeiten da, wo die Religionsfreiheit von den Staats-
gewalten vernichtet worden ist, zugleich die Freiheit überhaupt auf das
Tiefste geschädigt worden ist. (Ruf: Und der Kirchenstaat?) Das hat sich
durch das ganze Alterthum durchgezogen, das ist der Grundzug des byzanti-
nischen Reiches, das ist der Grundzug des achtzehnten Jahrhunderts — und,
meine Herren, wer die Zustände des achtzehnten Jahrhunderts einigermaßen
kennt, der wird sagen: um keinen Preis mehr solche Zustände! jedes Mitzcl,
jedes crlaubte Mittel ist gerecht, das uns vor solchen Zuständen schützt! — Und,
meine Herren, das Hauptmittel, was wir haben, was das Alterthum nicht
hatte und weshalb sich dieses der Vergewaltigung des Einzelnen nicht
entziehen konnte, — das Hauptmittel ist: Freistellung der Konfession, Frei-
stellung der Religion, Freistellung gegenüber einer in der Ausbildung begriffenen
staatlichen Omnipotenz, die unter allen Umständen unerträglich ist, sie mag
von einem Fürsten oder von einer Partei, von einem Reichstage oder wie
das Element immer heißen mag geübt werden; sie ist jedesmal unerträg-
lich, jedesmal eine Beeinträchtigung der heiligsten Rechte und Interessen jedes
einzelnen Menschen! Das, meine Herren, sind die Gründe, welche mich be-
stimmt haben, für den Antrag Reichensperger meine Stimme zu geben,