934 I. Session des Deutschen Reichstages. 1871.
durchaus allem Gebrauche entsprechend und wir können dabei keine Rücksicht
darauf nehmen, ob unser Vorgehen gerade Ihrem Ruhebedürfnisse entspricht.
Wenn hiernächst der Herr Abgeordnete von Treitschke meint, es sei von ihm
und seinen Freunden nicht erwartet worden, daß Diskussionen, wie sie bei
der Adresse waren, und Diekussionen, wie wir sie heute haben, stattfinden
würden, — so muß ich gestehen, daß ich das kaum begreife. Es war dies gar
nicht zu vermeiden. Uebrigens haben wir die Diskussionen nicht veranlaßt.
Was die Adresse betrifft, meine Herren, so haben wir sehr gern über die
trennenden Punkte schweigen wollen, um in den einigenden Punkten zusam-
menzugehen. Sie haben aber für nothwendig erachtet — um, wie der Herr
Abgeordnete Miquel sagte, uns den Standpunkt klar zu machen — das
auszusprechen, was Sie ausgesprochen haben. Dagegen mußten wir uns
wehren. Wenn es jetzt heißt, wir hätten angefangen, dann ist das eine Er-
innerung an die Fabel von dem Wolf und dem Lamm. (Heiterkeit.) — Ich
sage nicht, daß Einer von Ihnen der Wolf ist, (große Heiterkeit) ich sage
nur, daß es an die Fabel erinnert. — Auch in Beziehung auf den Antrag,
den wir in diesem Augenblicke debattiren, baben wir die Veranlassung nicht
gegeben. Die Veranlassung ist uns aufgezwungen, indem man — nach
meiner Ansicht ohne Noth und wider alle Zweckmäßigkeit — den Art. 4
Nr. 16 geschaffen hat. Darin lag die Nothwendigkeit für diese neue Kom-
petenz des Bundes die nöthigen grundsätzlichen Unterlagen zu schaffen. Dann
ist, was die kirchlichen Fragen betrifft, allerdings für die grundsätzliche Er-
ledigung auch sonst eine Nothwendigkeit vorhanden. Denn wenn es un-
zweifelhaft ist, daß die richtige und verständige Handhabung der in §§ 12
und 15 der preußischen Verfassung enthaltenen Bestimmung in Preußen
große Befriedigung herbeigeführt hat, so ist doch nicht zu verkennen, daß
in neuester Zeit in Preußen und in den Käöpfen preußischer Staatsmänner
sich eine Reaktion gegen diefe Bestimmung geltend macht. Wir haben bei
der Vorlage in der hessischen Kirchensache, wir haben in den Erörterungen
des Herrn Kultusministers und seiner Räthe Grundsätze entwickeln gehört,
welche den Artikel 15 geradezu annulliren. Wir haben außerdem in der
Wissenschaft und auf den Tribünen der Wahlagitation Gründe und Sätze
gehört, welche sagten, der § 15 könne nicht aufrecht erhalten werden.
Ein Mann, der von seinen Parteigenossen der berühmteste Kanonist des
protestantischen Deutschlands genannt worden ist, hat auf der Tribüne, wo
es sich um seine Wahl handelte, ausdrücklich erklärt, daß et nothwendig sei,
in Beziehung auf die katholische Kirche Beschränkungen vis-à-vis der Be-
stimmungen des § 15 herbeizuführen. Wir haben aus den Reden, die
wir heute und vorgestern vernommen, dieselben Akkorde klingen gehört.
Meine Herren, der Herr Abgeordnete von Treitschke hat Ihnen zwar gesagt,
wie er selbst zugiebt, abweichend von vielen seiner politischen Freunde, —
und das erkenne ich an dem Herru Abgeordneten von Treitschke an, daß
er wirklich zuweilen den Muth hat, von seinen Freunden abweichende