950 I. Session des deutschen Reichstages.
was das nicht ist, wofür man es ausgiebt!“ (Lebhafte Zustimmung links.
Murren im (Kentrum.) Meine Herren, ich meinerseits verabscheue jede klein-
lich büreankratische Einmischung in das Wesen der Kirche. Der Herr Ab-
georducte für Tauberbischofsheim hat wohl nach einem ultramontanen Blatte
bier über einen Berliner Vorgang berichtet, über die Aeußerung eines Ab-
wesenden, des Herrn Professors Bluntschli in Heidelberg. Ich weiß nicht,
ob die Ansichten dieses Mannes in der hier fraglichen Sache mit den meinigen
gauz übereinstimmen; weun er wörtlich das gesagt hätte, was ihm von
Herrn von Ketteler nach einem Zeitungsberichte in den Mund gelegt wird,
dann stimmen sie nicht mit den meinigen überein. Nach meinen Anschau-
ungen — ich bin Protestaut — beruht gerade die Natur, das ticfste Wesen
dieser kirchlichen Gemeinschaft in der Lebenskraft der Gemeinde, in dem inner-
lichen religissen Wesen der Mitglieder der Gemeinde. Ich habe nie das
Staats-Kirchenregiment des fürstlichen Bischofs, das landesherrliche Episkopat,
wenn es auch historisch nothwendig war, als eine hohe Zierde, noch weniger
als eine unentbehrliche Lebensquelle des Pretestantismus crachtet. Ich stimme
dem Herrn Abgcordneten für Tauberbischofsheim also völlig zu, wenn er
sagt, wir dürfen die Kirche nicht erniedrigen, wir dürfen sie nicht herabsetzen
unter die büreaukratische Bevormundung des Staates, das wäre mit Recht
geeignet, das gesunde Selbstgefühl jedes Angehörigen der Kirche zu verletzen.
Allein ich rufe Ihnen zu, den Vertretern des deutschen Volkes, sehen wir
auf die Geschichte der Kirche, auf ihre Stellung zum Staat, und fragen
wir uns, ob nicht unser deutsches Selbstgefühl noch tiefer verwundet würde,
wenn wir den Tag erleben müßten, an welchem sich der Staat unserer
Nation unter die Bevormundung der Könige und ihrer mittelalterlichen
Politik niederbeugen müßte! Lassen Sie uns diese Zukunft nicht künstlich
herbeiführen, lassen Sie uns ihr Erscheinen nicht künstlich erleichtern! Ich
scheue mich nicht, zu behaupten, daß man in den ultramontanen Lagern, in
denen man bie jetzt den Krieg geführt hat gegen die nationale Politik Prcußens,
nur eine äußerliche Aenderung vollzog, indem man erklärte: „wir gehen
zum Kaiscr", — innerlich aber behielt man sich vor, den Geist und die
Grundanschauungen dieser antinationalen Partei hineinzutragen in die Gesetz-
gebung und das innere Leben des Rcichs. Diese meine Behauptung ist
identisch mit dem, was alle ultramontanen Kandidaten des Südens als ihr
Wahlprogramm für den Eintritt in dieses Haus der Gesetzgebung Deutsch-
lands verkündet haben. (Sehr richtigl) Wenn Herr Windthorst uns
versichert, der Staat sei nicht die einzige Quelle der Gesetzgebung, er sei nur
zum Schutz der Produkte der Gesetzgebung, zum Schutze des positiren Rechts
berufen, so ist das eine Argumentation aus dem Geiste einer mittelalterlich-
fcudalen Zeit, in welcher der Staat sein Leben theilte mit der Kirche. Dieser
Satz ist nach den Ideen der modernen Zeit durch und durch unwahr. Der
Staat ist die einzige Macht, welcher das Recht der Gesetzgebung und damit
die Regelung der öffentlichen Rechtsordnung zukommt. (Widerspruch.) Aber