956 I. Session des dentschen Reichstages.
in dessen Reiche die Sonne nicht unterging, stand wahrlich noch auf einer
hohen Stufe der Macht. Woher kam es nun, daß von da ab nicht volle
anderthalb Jahrhunderte hinreichten, um das Deutsche Reich bis in den tief-
sten Abgrund des Verderbens hinabzustürzen, in dem es sich zur Zeit des
dreißigjährigen Krieges befand? Das lag wahrlich nicht an der Einmischung
in fremde Angelegenheiten, sonderm an dem Zwiespalt der Meinungen im
eigenen Lande und an den erfolglosen Versuchen den Zwiespalt der Mei-
nungen mit der Schärfe des Schwertes zu beseitigen! Das ist es, was uns
in das Verderben gebracht hat. Machen wir uns jetzt keine Vorwürfe von
der einen oder der andern Seite — die Listen würden lang werden, wenn
Jeder aufzählen wollte, was von anderer Seite gesündigt ist in Beziehung
auf diesen Punkt. — Darauf kommt es auch gar nicht an bei meiner Betrach-
tung. Die Thatsache ist, daß der geistige, der religiöse Zwiespalt das Land
bis zur vollen Tiefe des Verderbens gebracht hat. Und wenn seitdem Deutsch-
land langsam und ganz allmählig sich wieder erhoben hat bis zu der Höhe,
auf der wir in diesem Augenblicke Gott sei Dank stehen, worin liegt denn,
nicht zum Kleinsten auch eine Ursache? Sehen Sie auf den Frieden von
Münster und Osnabrück. Die Gewissensfreiheit, die damals ausgesprochen
wurde, war freilich noch eine äußerst beschränkte und es war nur ein kleiner
Anfang; und doch ist dieser Keim im Laufe der Zeit zu einem mächtigen
Baum herangewachsen. Zunächst reichte zwar die Parität der Konfessionen
kaum weiter als bis zu den Landesherren, denn die Einwohner der einzelnen
Länder standen noch lange unter dem Druck des jus reformand der Landes-
herren, allein das Prinzip der Parität brach mehr und mehr durch und hat
schließlich sowohl durch den Reichsdeputations-Hauptschluß wie in der Wiener
Kongreßakte als ein Fundamentalgesetz des Deutschen Volkes Ausdruck ge-
funden, welches zumal bei der neuen Entwickelung der Verhältnisse, wo die
Konfessionen in den ihnen angehörigen Individuen in immer neue Mischung
mit einander getreten sind, sich bewährt und gezeigt hat, welche Bedeutung
es hat. Und an der Hand solcher Lehren der Geschichte meine ich ist es
wahrlich gut gethan, wenn wir in dem Augenblick, wo wir einen neuen
Boden betreten haben und einer glänzenderen Zukunft entgegen gehen wollen,
diesen Boden nicht von Hause aus unterminiren lassen durch die Gefahren
des Zwiespaltes in der Feindseligkeit auf geistigem und religiösem Boden.
Die Einheit können wir in diesem Momente nicht haben, wir können sie
nicht erzwingen und nicht erzwingen wollen. Was steht der Einheit am
nächsten, wenn es sich um den Frieden handelt? Die Freiheit und abermals
die Freiheit und die Anerkennung des gegnerischen Rechtes! (Lebhaftes
Bravo im Centrum.)
Frhr. zu Rabenau (Gießen 2c.):°) Meine Herren! Ich bin der Ansicht,
*) St. B. S. 128 r. g. o.