Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

960 I. Session des deutschen Relchstages. 1871. 
statt dessen bekommen wir zwei lange Sitzungen hindurch nichts weiter als 
Streitigkeiten über religiöse Dinge zu hören. Es scheint mir überhaupt, als 
wenn die Religionsinteressen im neuen Deutschen Reich alles Andere aus- 
merzen sollten; denn in zwei Sitzungen, die ich die Ehre habe bier an- 
wesend zu sein, habe ich außer Religiösem kaum ctwas Anderes zu beren 
bekommen, so daß einem Manne, der mit den religiösen Dogmen vollständig 
gebrochen hat, es eine gewisse Selbstüberwindung kostet, einer solchen Ver- 
handlung länger zuzuhören! (Heiterkeit.) Meine Herren! Es ist von einer 
Seite in der Sonnabendsitzung behauptet worden, daß Grundrechte in einer 
Verfassung zu verlangen eigentlich ein längst überwundener Standpunkt sei, 
ein Standpunkt, der der Kinderzeit unseres politischen Lebens angeböre. Jch 
werde auf diesen Einwand noch später ausführlich zurückkommen. (Unrube.) 
Ich will hier zunächst nur bemerken, daß als vor circa 8 Monaten der 
König von Preußen Berlin rerließ und nach dem Kriegsschauplatz abreiste, 
er in einer Proklamation ausdrücklich aussprach, daß aus diesem Kriege die 
freiheitliche und einheitliche Entwickelung Deutschlands hervorgehen selle. 
Nun, meine Herren, ich bätte denn doch geglaubt, daß, wenn man ven 
höchster Stelle dieses Versprechen nicht erfüllt hat, nach meiner Ueberzeugung 
es wenigstens Aufgabe und Pflicht des Reichstages gewesen sei, an diese 
Versprechen zu erinnern und Alles aufzubieten, um dieses Versprechen zur 
Verwirklichung zu bringen. Statt dessen aber höre und sehe ich aus den 
ganzen Verhandlungen, daß nicht nur diejenige Partei, die Herren von der 
Rechten, die von jeher von freiheitlichen Rechten gar nichts haben wissen 
wollen, — das bringt ja ihre Natur mit sich — (große Heiterkeit) sendem 
daß auch die Herren hier von der Linken, die seit 3, 4, 5 Jahren uns be- 
ständig damit vertröstet haben: haben wir erst die Einheit, dann bekommen 
wir auch die Freiheit, — daß die Herren beute, nachdem wir die Einbeit, 
wenn auch in etwas unrollständiger als im alten Bundestage baben, — 
daß sie beute erklären, es ist nicht oppertun, die Freiheitsfrage 
(Unterbrechung. Nuf: geradeaus!) — Meine Herren, ich spreche rorzugsweise 
hier zu den Herren auf der Linken, da meine Worte sie angeben. (Unter- 
brechung rechts: Wir hören nichts!) Meine Herren, ich hoffe, Sic werden 
es hören, Sie sollen auch Ihr Tbheil ganz bestimmt bekommen. (Greß#e 
Heiterkeit.) — Also die Herren haben uns seit dieser Zeit beständig damit rer- 
tröstet, die Freiheit würde kommen, und jetzt, wo mit der Freibeit nach 
ihren früheren eigenen Acußerungen der Anfang soll gemacht werden, sagen 
sie, es ist inopportun, und zu meinem gräßten Erstaunen tritt dicicnize 
Partei (die Fortschrittspartei), die in dem vergangenen Jahre, we dicte 
Herren (auf die Natienalliberalen weisend) die Parolc der Inoxpormunitit 
ausgaben, diese Parole bekämpft hat, ietzt auf und erklärt ebenfalls, es in 
inopportun, die Grundrechte in die Verfassung aufzunehmen. Sie erklämn 
das angesichts der Thatsache, daß selbst die verbündeten Regicrunzen sich 
um die Inopportunität einer Verfassungsänderung gar nicht scheren, sendem
	        
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