966 I. Session des deutschen Reichstages.
gedentet worden. Nun, ich glanbe allerdings, mit dem einen Worte ist die
Sache nicht abgethan. Wir müssen uns erinnern an die Zustände in Preußen
vor 1848: wir müssen uns erinnem an die Kouflikte des Polizei= und abse-
lutistischen Staats mit der katholischen Kirche in der Kölner Erzbischofefrage:
wir müssen uns eriunern, daß damals alle liberalen und wohldenkenden
Männer die größte Schen davor hatten, daß solche Dinge zurückkehren könnten.
Der Polizeistaat, der Staat der Willkür, der absolutistische Staat war der
katholischen Kirche gegenüber, der öffentlichen Meinung in Deutschland gegen-
über unterlegen. Nun kam das Jahr 1848, und ich glaube allerdings, es
ist kein Verrath an der liberalen Sache, wenn ich offen bekenne, daß die
damals allerdings noch sehr unerfahrene liberale Partei glaubte, den Fort-
schritt darin zu erblicken, wenn sie die Rechte des Staates verminderte; sie
sah im Staat vorzugsweise den absolutistischen Polizeistaat, und jede Ver-
ringerung der Rechte des Staats hielt die liberale Partei in viel zu hohem
Maße damals für eine Vermehrung der bürgerlichen Frciheiten. Diese beiden
Anschauungen und die Wirksamkeit des politischen Schlagworts: „Trennung
der Kirche vom Staat", sowie die Hoffnung — im Sinne der liberalen
Partei rede ich heute —, daßg daun auch die Trennung der Schule von der
Kirche und die übrigen Freiheiten, die Garantierechte des Einzelne." der Kirche
gegenüber von selbst folgen würde, — diese Dinge brachten damale, geführt
und geleitet von den ganz kaltblütigen Vertretern der katholischen Kirche, den
§ 15 der preußischen Verfassung herror. Wer die damaligen Debatten
genau liest, wer die inhaltreichen Worte des Herrn Abgeordneten Reichens-
perger in diesen Debatten mit den unklaren und ich möchte sagen idealen
und ideologischen Auseinandersetzungen der liberalen Partei vergleicht, der
allerdings wird den Schlüssel für § 15 unserer Verfassung gefunden.
haben. Meine Hemen, unun haben wir glücklicherweise die Erfahrung, die
Geschichte der Wirksamkeit dieses Artikels 15 gesehen, — was ist nun aus
diesem § 15 der Verfassung bervorgegangen? Nicht ein einfaches Recht
der katholischen Kirche, nicht die Gleichheit der Rechte der anderen Kon-
fessionen sonderm eine privilegirte Ausnabmestellung der katholischen Kirche
in Preußen, wie sie geradezu unerbört ist, und von der man allerdings
sagen kann mit dem Herrn Abgeordneten aus Baden: dieser Artikel giebt
der katbolischen Kirche im Verhältniß zu den übrigen Konfessionen Rechte,
wie sie niemals von der katholischen Kirche bei Gelegenheit von Konkordats-
verhandlungen gefordert sind. Meine Herren, hat denn die evangelische Kirche
aus diesem Artikel irgend einen Nutzen ziehen können, ist sie nicht noch heute
in derselben Lage wie 18487 baben denn die übrigen Konfessionen oder
religissen Anschauungen und Gemeinschaften daraus irgend einen Nutzen
ziehen können? ist den beute die GEivilehe, die nothwendige Ergänzung, um
die wahre konfessionelle und menschliche Freiheit herzustellen, in Preußen ein-
geführt? ist in Bezug auf das Schulwesen irgend eine Veränderung einge-
treten? Wer allein hat aus dem § 15 die volle Unabhängigkeit herleiten