6 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
Ein Gesichtspunkt könnte allgemeine Bedeutung beanspruchen: der Gesichtspunkt der
Heiligkeit und der Würdigkeit der Arbeit; aber auch hier handelt es sich bloß um eine Schablone,
die erst die betreffende Kultur wieder ausfüllen wird; denn Arbeiten, für die wir gar kein Ver-
ständnis haben, etwa abergläubische Verrichtungen usw., galten einer Kulturperiode für be-
deutend und verdienstvoll, während anderseits unsere wirtschaftliche und Handelstätigkeit von
gewissen Völkern nur als eine ganz untergeordnete und die künstlerische Produktion vielfach
sogar als eine des freien Mannes unwürdige betrachtet wird. Auch hier kann der Satz nur
lauten: die Arbeit soll die nach der Schätzung der Kulturperiode ihr zukommende Behandlung
im Rechte finden. Auch darin also ist alles relativ, und man kann nur sagen: 1. das
Recht einer Kulturperiode betrachtet die Sachen so und so, und 2. die Kulturperiode stimmt
dem Rechte zu oder sie verlangt dessen Anderung.
8§ 3. Recht als Kulturerscheinung.
Wenn auf solche Weise das Naturrecht beseitigt ist, so darf man doch nicht etwa das Recht
als etwas Außerliches und als ein aller rationellen Gründe bares Gebilde betrachten, das sich
nur zufällig so und nicht anders gestaltet (Voluntarismus oder Positivismus). Das ist der
größte Irrtum, in den manche Bekämpfer des Naturrechts geraten sind. Sie kamen zu einem
Positivismus, welcher überhaupt jedes Nachdenken über das geltende Recht verbot und dem
Juristen sogar die Befugnis bestritt, sich über das Recht und seine Fortschritte zu äußern und
eine Wertschätzung der positiven Rechtsordnung vorzunehmen; mit anderen Worten: man
wollte nicht nur das Naturrecht, sondern die Rechtsphilosophie und die Rechtspolitik ausrotten;
man tat dies deshalb, weil man die Aufgabe der Rechtsphilosophie und der Rechtspolitik nicht
richtig auffaßte. Wenn auch das Recht ein ständig Wechselndes und sich Entwickelndes ist, so
ist es doch nichts Außerliches und Zufälliges, sondern es ruht mit seinem innigsten Gefaser in
den Wurzeln der Volksseele und entspricht dem kulturentwickelnden Drange, der das Volk durch-
zieht, das Volk, seien es alle Mitglieder, seien es einige hervorragende, weitschauende Geister.
Von diesem Standpunkt läßt natürlich das Recht eine Wertschätzung zu; es ist zu schätzen nach
der Art und Weise, wie es der Kultur und dem Kulturbedürfnis des Volkes nachkommt; aus
Kultur und Kulturbedürfnis entnehmen wir das Ideal, dem das Recht einer bestimmten Zeit
möglichst genügen soll 1.
Der Positivismus,r bricht von selber entzwei, wenn man das Problem des Gesetz-
gebers ins Auge faßt. Wäre ein Recht wie das andere, so brauchte man überhaupt keine gesetz-
geberische Beratung, sondern es genügte, die verschiedenen rechtlichen Möglichkeiten in einen
Lostopf zu werfen und das eine oder andere herauszugreifen; so weit führt der Positivismus,
überhaupt eine jede Rechtsgestaltung, die sich von der Rechtsphilosophie abwendet!
Das Recht baut sich also auf auf der Grundlage der Kultur; aber es ist, wie jedes Kultur-
element, ein Januskopf; indem es aus der vergangenen Kultur stammt, hilft es, einer künftigen
Kultur den Boden zu bereiten; hervorgegangen aus der Vernünftigkeit einer bestimmten
Periode, dient es dem Fortschritt der Kultur und arbeitet damit an der Schöpfung einer neuen
Kultur und zugleich an der Zerstörung seiner eigenen. Jedes Recht ist ein Odipus, der seinen
Vater tötet und mit seiner Mutter ein neues Geschlecht erzeugt.
1 Bgl. Lehrb. der Rechtsphilosophie S. 38 f.
Die Frage, ob der Richter nicht auch die Vernünftigkeit des positiven Rechts zu prüfen
und es daher möglicherweise für unanwendbar zu erklären hat, wurde im Mittelalter vielfach
bejaht; sie ist heutzutage noch in den Vereinigten Staaten bedeutsam, allerdings namentlich in der
Richtung, daß unvernünftige Staatengesetze vor dem Bundesrecht nicht bestehen können, vol.
darüber Müller, 3Z. f. Bölkerrecht III S. 25. In Deutschland wendet sich ihr die sogenannte
Freirechtssch chule zu, welche nur die Ubertreibung des an sich richtigen Satzes darstellt,
daß die Rechtspflege dem Vernünftigen zustreben soll, welchen Satz ich stets vertreten habe, vor allem
in meinem Shak #peare vor dem Forum der Jurisprudenz. Uber diese Richtung ogl. den Ber-
liner Kongreß f. Rechtsphilos. im Arch. f. Rechtsphil. III, S. 526 f., neuerdings Rumpf, Gese
und Richter (1906), Volk und Recht (1910), Der Stra richter (1912), Schmitt, Gesetz un
Urteil (1912). Unhaltbares in positivistischer Richtung bei Bergbohm S. 109f. und völlig Ber-
kehrtes über das werdende Recht S. 432. Der von ihm getadelte Dualismus im Recht ist von
jeher die Quelle des Fortschrittes gewesen.