1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 97
keine oder doch keine formell gültige Privatklage vorlag. Der Gerügte reinigte sich durch Eid
mit Helfern, eventuell durch ein Ordal. Wurde er beweisfällig, so trat Bestrafung von Amts
wegen ein, ebenso im Fall der handhaften Tat, wenn ein Privatkläger fehlte. Auf einer Rezep-
tion des geschilderten Rügeverfahrens beruht das Verfahren, das die fränkische Kirche in den
kirchlichen Sendgerichten zur Ausbildung brachte. Das Verfahren bei handhafter Tat ist in dieser
Periode regelmäßig bereits ein Rechtsverfahren, das die Vollstreckung der Friedlosigkeit dem
Richter vorbehält. Der mit Gerüfte verfolgte oder festgenommene Missetäter darf nicht mehr
ohne weiteres getötet, sondern nur noch gebunden und vor den Richter gebracht werden, er
müßte sich denn der Festnahme widersetzen. Ohne daß es einer Vorladung und einer rechts-
förmlichen Klage bedurfte, wird der gebundene Verbrecher, dem das Recht der Antwort und
des Unschuldsbeweises versagt ist, von Amts wegen gerichtet, nachdem der Urheber der Fest-
nahme, der bei allgemein friedlos machenden Taten nicht gerade der Verletzte zu sein brauchte,
die handhafte Tat mit Eidhelfern beschworen und damit die Rechtmäßigkeit der Festnahme
und Bindung bewiesen hat. Nur noch bei gewissen Verbrechen, so z. B. bei nächtlichem Dieb-
stahl, darf der handhafte Verbrecher wie einst ohne jedes Rechtsverfahren getötet werden.
3. Die Ausbildung eines richterlichen Vollstreckungsverfahrens. Die außergerichtliche
Pfandnahme, wie sie das Volksrecht dem Gläubiger auf Grund eines gerichtlichen oder außer-
gerichtlichen Versprechens gestattete, wurde bei den meisten Stämmen an die Voraussetzung
richterlicher Erlaubnis geknüpft. Das salische Recht stellte ihm statt der Selbstpfändung die
Auspfändung des Schuldners durch den Grafen oder dessen Unterbeamten zur Verfügung,
eine königsrechtliche Neuerung, die bei den Franken die Selbstpfändung verdrängte. War ein
Bußschuldner insolvent, so wurde er, wenn die Verwandten oder Dritte ihn nicht auslösten,
in die Gewalt und Willkür des Klägers gegeben; doch gestattete das karolingische Königsrecht
dem Schuldner, diese äußerste Konsequenz durch freiwillige Begebung in rechtlich geregelte
Schuldknechtschaft abzuwenden. Im Ungehorsamsverfahren, für das früher nur die Friedlos-
legung zu Gebote stand, wurde jetzt zunächst die richterliche Pfandnahme, in Strafsachen auch
die Verhaftung zulässig. Soweit man die Friedlosigkeit noch verhängte, erschien sie als Ent-
ziehung des Königsschutzes, welcher das Recht der karolingischen Zeit als Vorstufe einen provi-
sorischen Vorbann des Grafen (forbannitio) vorausgehen ließ. Während die richterliche Aus-
pfändung sich nur auf Mobilien erstreckte, entwickelte sich unter den Karolingern eine richter-
liche Exkution in das gesamte, auch in das unbewegliche Vermögen des Beklagten, die Fronung
oder missio in bannum regis. Auch sie war eine Abspaltung der Friedlosigkeit, indem diese
nur gegen das Vermögen, nicht auch gegen die Person des Säumigen Platz griff. Das Gut
des Beklagten wurde vom Grafen mit Beschlag belegt und fiel, wenn es jener nicht binnen
Jahresfrist aus dem Banne zog, dem Fiskus anheim, soweit es nicht zur Befriedigung des Klägers
in Anspruch genommen wurde.
4. Die Reform des Beweisverfahrens. Der Eidhelferbeweis wurde erschwert, indem
man die Eidhelfer einzeln schwören ließ. Soweit der Schwörende das Recht hatte, die Eid-
helfer auszuwählen, war er in der Regel nicht mehr auf den Kreis seiner Magen beschränkt.
In bestimmten Fällen erlaubte man dem Gegner des Beweisführers, die Zahl der Eidhelfer
zu überbieten und diesen hierdurch zum Aufgeben der Beweisrolle oder zum Schwur mit der
gleichen Anzahl von Eidhelfern zu zwingen. Um die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses zu er-
höhen, wurde die Zeugenfähigkeit von einem bestimmten Vermögensmaß abhängig gemacht,
wurde ferner ein Verhör der Zeugen vorgenommen, ehe man sie zum Eide zuließ, und wurde
die Aufstellung von Gegenzeugen gestattet. Wenn die Aussagen der Zeugen und Gegenzeugen
nicht übereinstimmten, entschied der Zweikampf der Zeugen. Das Verfahren mit Urkunden
gestaltete sich verschieden bei Königsurkunden und bei Privaturkunden. Die Privaturkunde
erforderte die Zuziehung von Zeugen; denn sie lieferte, wurde sie bestritten, an sich keinen Be-
weis, sondern es mußten die Urkundszeugen für sie eintreten, indem sie die Wahrheit des Ur-
kundeninhalts bezeugten. Die fränkischen Volksrechte kennen eine schlichte und eine rechts-
förmliche Anfechtung der Urkunde. Letztere charakterisiert sich dadurch, daß derjenige, der die
Urkunde schilt, sie vor Gericht durchstößt (allgemeine Rechtsform, um eine Urkunde zu ent-
kräften), worauf hin die Zeugen (salisches Recht) oder Zeugen und Schreiber (ribuarisches Recht)
die Wahrheit der Urkunde, eventuell durch gerichtlichen Zweikampf, erhärten mußten. Die
Encyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band I. 7