98 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
Königsurkunde ist dagegen unanfechtbar. Da sie somit an sich vollen Beweis liefert, bedarf
sie keiner Zeugen. Die fränkischen Könige (und die letzten Hausmeier) urkunden daher in der
Regel zeugenlos.
Besondere prozessualische Grundsätze konnten im Königsgerichte und in den als Emana-
tionen des Königsgerichtes erscheinenden Gerichten des Pfalzgrafen und der königlichen missi
in Anwendung kommen. Das Königsgericht konnte grundsätzlich in allen Rechtsstreitigkeiten
kompetent werden und konkurrierte insofern mit den Volksgerichten; insbesondere entschied
es, wenn das ordentliche Gericht die Rechtshilfe verzögerte, versagte oder zu gewähren außer-
stande war. Um die Kompetenz des Koönigsgerichtes im einzelnen Falle formell zu begründen,
waren schriftliche Mandate der königlichen Kanzlei, sogenannte indiculi regales, in Ubung, die
zu Händen des Klägers ausgestellt wurden. Der König war außerdem befugt, im einzelnen
Falle die Formen des strengen Rechts außer Kraft zu setzen und nach Billigkeit entscheiden zu
lassen, sowie überhaupt Prozeßprivilegien zu erteilen. So gab er in den Mundbriefen jenen,
die er in höheren Schutz aufnahm, das Reklamationsrecht, das ist das Recht, einen Prozeß aus
dem Gaugerichte an das Königsgericht zu ziehen, damit er dort secundum aequitatem ent-
schieden werde. Während das volksgerichtliche Verfahren die Stellvertretung vor Gericht grund-
sätzlich versagte, durfte sie das Königsgericht in Fällen echter Not einer Prozeßpartei gestatten,
und konnte man durch besonderes königliches Privilegium das Vorrecht erlangen, sich in jedem
Gerichte vertreten zu lassen. Vorbehaltene Beweisinstitute des königsgerichtlichen Verfahrens
waren das Gerichtszeugnis und der Inquisitionsbeweis. Während sonst gerichtliche Akte, falls
sie hinterher bestritten wurden, durch die formalen Beweiemittel des volksrechtlichen Ver-
fahrens bewiesen werden mußten, konnten sie im Königsgerichte durch Gerichtszeugnis kon-
statiert werden, das irgendeiner Anfechtung nicht unterlag. Der Inquisitonsbeweis bestand
in der Anwendung des Frageverfahrens als Beweismittel in Zivilsachen, und zwar namentlich
in Streitigkeiten um Grundbesitz, Freiheit und Eigenleute. Die Inquisitionszeugen wurden
von Amts wegen ausgewählt und bei Königsbann vorgeladen, eingeschworen und ingquiriert.
Ihr Wahrspruch war einer Anfechtung durch die Partei nicht ausgesetzt. Die Ingquisitions-
gewalt, d. h. die Befugnis, den Inquisitionsbeweis anzuordnen, besaß nur der König, der zu
diesem Zwecke besondere Mandate erließ (brevia, indiculi inquisitionis). Allgemeine In-
quisitionsvollmacht hatten die königlichen missi, und in dieser Beziehung waren Witwen, Waisen
und Hilfsbedürftige ihrer besonderen Obsorge empfohlen. Einzelne Parteien hatten Inquisitions--
recht, d. h. die Befugnis, die Anwendung der inquisitio in ihren Prozessen vor jedem Richter
zu verlangen, so der Fiskus für das durch mannigfaltige Prozeßvorrechte privilegierte Königs-
gut, so zahlreiche Kirchen, denen der König dieses Recht besonders verliehen hatte.
J. Das Deutsche Neich bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts.
I. Allgemeine Rechtsgeschichte.
§ 23. Das Deutsche Reich. Das Deutsche Reich wurde nach seiner Entstehung zunächst
als ein Teil oder als die Fortsetzung der fränkischen Monarchie angesehen. Etwa ein halbes
Jahrhundert lang hatte das neue Staatsgebilde um seine Konstituierung zu ringen. In den
einzelnen Stammesgebieten war eine stammesherzogliche Gewalt entstanden oder im Ent-
stehen begriffen, mit der das Königtum sich auseinanderzusetzen hatte. Eine Zeitlang schien
es zweifelhaft, ob die deutschen Stämme, die sich unter Arnulf erhoben hatten, vereinigt bleiben
würden. Die Bande, die sie trotzdem zusammenhielten, waren die königliche Gewalt und die
harte Notwendigkeit, die Angriffe äußerer Feinde, insbesondere die der Ungarn, abzuwehren.
Nachdem Heinrich I. durch weitgehende Nachgiebigkeit gegen die Herzogtümer die Anerkennung
und Duldung der königlichen Gewalt erreicht hatte, legte Otto I. die dauernden Grundlagen
der politischen Einheit. Mit ihm begann jene Periode der deutschen Geschichte, die wir als die
Zeit der vollen Machtentfaltung des Deutschen Reiches bezeichnen dürfen. Diese erreichte
ihren Höhepunkt unter Konrad II. (1024—1039). Die Kraft des Königtums beruhte auf der
Verbindung mit einem von ihm abhängigen, geförderten und national gesinnten Episkopat.
In raschem Aufschwung erlangte das Deutsche Reich die unbestrittene Vorherrschaft in Europa.