J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 7
8 4. Rechtsphilosophie und Entwicklungslehre.
Die Rechtsphilosophie muß daher das Recht als ein stets sich wandelndes und fortschreitendes
ansehen und darlegen, wie es, in der Kultur ruhend, eine alte Kultur vertritt und zugleich einer
neuen Kultur die Wege bahnt. Darum muß die Rechtsphilosophie auf dem Boden der Ent-
wicklungslehre stehen; jede der Entwicklungsgeschichte abgekehrte Rechtsphilosophie
ist verfehlt. Sie muß ebendarum auf dem Boden einer Gesamtphilosophie stehen, denn niemand
wird die Bedeutung der Entwicklung der Menschheit, ja den Begriff der Entwicklung überhaupt
auch nur ahnen können, wenn er von dem Weltganzen und seiner Bedeutung keine Vor-
stellung hat. Daher ist eine Rechtsphilosophie nur auf dem Boden einer Idealphilosophie
mWöglich; sie ist nicht möglich auf dem Boden der positivistischen Philosophie, welche, auf kanti-
schen Irrtümern beruhend, annimmt, daß es uns überhaupt nicht gegeben sei, über die Welt-
erscheinungen hinauszublicken 1. Sie ist nicht möglich auf dem Boden des Materialismus, welcher
überhaupt etwas über der Welt der Erscheinungen Schwebendes nicht anerkennt.
Eine Philosophie, auf die sich das Recht stützen könnte, liegt nur vor, wenn man durch
die Erscheinungen auf etwas Tieferes dringt; auch die Erkenntnistheorie ist nur insofern Philo-
sophie, als sie uns auf die weitere Philosophie, die Metaphysik, vorbereitet. Wer in der mehr
oder minder den äußeren Eindrücken entsprechenden Welt der Erscheinungen das Letzte findet,
mag sich damit begnügen, daß es unsere Sache sei, die Welt der Erscheinungen als Erscheinungs-
welt zu erkennen, zu beschreiben und so weit zu erklären, als in ihr gewisse äußere Regelmäßig-
keiten obwalten — dies ist aber keine Philosophie und kann darum auch keine Rechtsphilo-
sophie sein.
Man hat dem entgegengehalten, daß ein Hinausgehen über die Welt der Erscheinungen
nicht dem Wissen, sondern dem Glauben angehöre; das ist unrichtig. Der Glaube zeigt in
Phantasie und Bild, was uns die Philosophie in der Wirklichkeit bieten soll; der Glaube sucht
ahnend im Gefühl zu erfassen, was wir mit scharfem Verstande der Betrachtung des Weltalls
entnehmen; denn wie der Asthetiker den Eindruck des Bildes zergliedert und uns zeigt, worin
seine Bedeutung und der Zauber und Glanz seiner Darstellung beruht, während der sinnige Be-
trachter im augenblicklichen Erfassen den ästhetischen Eindruck empfängt, so ist es mit der Philo-
sophie, die das Unendliche zu erkennen strebt, während der Glaube es in ahnungsvollem Schauer
empfindet. Es wäre völlig unrichtig, wollte man den Asthetiker beiseite schieben, weil es sich
hier um Empfindung, nicht um wissenschaftliche Erkenntnis handelte; und ganz ebenso verhält
es sich mit der Beziehung zwischen Religion und Philosophie.
8§ 5. Rechtsphilosophie und Philosophie.
Alle philosophischen-Systeme, welche tiefer zu dringen suchen, gehen entweder von dem
Prinzip des Monismus oder des Dualismus aus, indem sie die letzte Einheit, die Gottheit,
entweder in oder außer der Welt suchen. Der Monismus wird zum Pantheismus, wenn er
in der Welt ein ständiges Weben der Gottheit erblickt, ebenso wie etwa eine Strahlung im All,
die von einem leuchtenden Punkte ausgeht. Im Gegensatz hierzu sucht der Dualismus eine
Gottheit außer der Welt, und diese soll in der einen oder der anderen Weise zur Welt in Gegen-
satz treten; die Vermittlung sucht er in der Schöpfung, in der Gestaltung aus dem Nichts, das
in eine bestimmte Periode des Weltalls zurückversetzt wird.
Indes sind beide Systeme nicht so sehr voneinander geschieden, daß sie nicht ihre Be-
rührungspunkte hätten; und insbesondere kann der Dualismus sich leicht dahin umwandeln,
die Schöpfung nicht als etwas Einmaliges, sondern als fortdauernde Einwirkung der Gottheit
anzusehen. Ist aber dies der Fall, so ist die Brücke zum Pantheismus geschlagen.
Die reinste und geistreichste Gestalt des Pantheismus ist die Veedäntaphilosophie
der Hindus in der Form, wie sie Badaräyana und Cankara entwickelt haben?.
ꝛ Herüber Lehrb. der Rechtsphil. S. 7 f., Arch. f. Rechtsphil. I S. 488.
*Der bahnbrechende Kommentar Cankaras zu den Sttras des Vedänta ist übersetzt
on Deussen (1887) und von Thibaut in den Sacred Bocks of the East, Vol. XXXI
and XXXVIII. Doch hat sich die Bedkntaphilosophie nicht von erkenntnistheoretischen Irrtümern