Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

8 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
Mit dem Vedänta hängt am meisten die Platonische Philosophie zusammen, wie 
denn der Neuplatonismus nur eine Wiedergeburt des aus dem Vedänta entsprungenen Yoga- 
systems ist. 
Im Gegensatz dazu hat die Aristotelische Philosophie 1 mit ihrer Lehre vom 
höchsten Gute dem Dualismus die Handhabe geboten und wurde auf solche Weise zur lebendigen 
Stütze des Thomismus, während namentlich Scotus Erigena zum Pantheismus neigte 
und die Mystiker des Mittelalters die Fortsetzer der Dogalehre und des Neuplatonismus wurden?. 
Eine Vereinigung des Aristoteles mit Plato bietet die Hegelsche Entwicklungslehre: 
neben der göttlichen Einheit tritt die Welt der Erscheinungen, aber nicht als etwas Geschaffenes, 
sondern als eine ständige Emanation, die — alle Weisheit und Größe im Keime enthaltend — 
sich immer weiter nach der Richtung der Vollkommenheit, d. h. des Göttlichen entfaltet; dies 
ist es, was wir Entwicklung nennen 8. Wenn wir auf solche Art den Menschen als Welterscheinung 
denken, so ist sein Wirken ein Wirken innerhalb des Allwesens, und die Kultur ist nichts anderes 
als ein ständiges Walten göttlicher Herrlichkeit zu dem Zwecke, die göttlichen Bestrebungen 
zu verwirklichen. Auf diese Weise gewinnt die Kultur einen bedeutungsvollen Hintergrund, 
sie wird metaphysisch vertieft, und was wir in ihr erkennen, führen wir zurück auf das Allwesen 
und sein Wirken. Nur auf solchem Wege gewinnt die Geschichte Bedeutung und Sinn; sie ist 
nicht mehr eine Folge von Begebenheiten, sondern eine stetige Frucht göttlichen Waltens, sie 
ist eine Außerung göttlicher Vernunft. Ihre Zufälligkeiten bleiben Zufälligkeiten in der 
empirischen Welt, lösen sich aber auf als Emanationen der Weltseele ". 
Nach unserer Auffassung wird ein Moment in der Geschichte besonders hervortreten: 
die Menschheit wird ohne ihren Willen und Wissen auf gewisse Entwicklungsformen geleitet 
werden: in der Vielheit der Einzelnen liegt eine Fülle gleichheitlicher Entwicklungskeime, die 
ohne das Bewußtsein der Einzelnen sich entfalten und immer neue Gestalten schaffen. So ist 
die Ehe, so ist die Familie, so ist das Eigentum geworden, so ist die Sittlichkeit entstanden, ohne 
daß die Einzelnen, die an der Entwicklung beteiligt waren, auch nur eine Ahnung hatten, wonach 
die Entwicklung hinstrebte, und was sie erzielte. Vgl. unten S. 29. 
Der philosophische Hintergrund ist also nicht nur eine Sache des Glaubens, sondern eine 
Sache der Wissenschaft, auch wenn dabei die Intuition eine große Rolle spielt 5. 
Schon eine Reihe von Erscheinungen des menschlichen Lebens läßt sich nicht ohne Herbei- 
ziehung der Unendlichkeit denken; insbesondere der Begriff der Schuld und der damit zusammen- 
hängende Begriff der Willensfreiheit ist auf dem Standpunkt einer materialistischen oder 
positivistischen Philosophie nicht zu konstruieren; man hat ja gar Wille und Schuld beiseite zu 
schieben und sie ins Reich des Glaubens oder der Dichtung zu verweisen versucht, weil man 
sie auf positivistische Weise nicht zu erklären vermochte! Noch viel weniger sind die Erscheinungen 
der organischen Welt und der Geschichte mit ihrer wunderbaren Zweckmäßigkeit zu verstehen, 
wenn man nicht ein nach bestimmten Zielen hin wirkendes Wesen zugrunde legt, dem die Welt 
der Erscheinungen dient, und in dem und aus dem heraus die Welterscheinungen zu ihrem Aus- 
druck kommen. 
Können wir auf solche Weise über die Welt der Sinne hinaus das Ubersinnliche beweisen, 
so sind wir im Bereich der Wissenschaft und nicht des Glaubens; es ist ebenso, wie die Astronomie 
freigemacht. Über ihre Stellung in der indischen Philosophie und die anderen Systeme der Sank- 
hya-, Kapila-, Yoga-, Vaischeschika--, Lokayatalehre, sowie über die neueren Entwicklungen der 
buddhistischen Denkweise vgl meine Abhandlung im Arch. f. Rechtsphiül. V S. 547 f., 606 f. 
1 Bgl. darüber Lehrbuch der Rechtsphilosophie S. 7 f., Arch. f. Rechtsphil. V S. 397 f. 
: Bgl. meinen Aufsatz im Arch. f. Rechtsphil. V S. 533 und die dort zitierten. 
* Lehrbuch der Rechtsphil. S. 23 f. Über den großen Vorgänger Hegels, Bico (1668—1744) 
odl. Arch. f. Rechtsphil. V S. 261 und die hier zitierten Schriften von Croce. Vgl. auch 
Aless. Le vi, il duritto naturale nella filosofia di Vico (1910). 
* Bgl. hierüber meine Abhandlung im Arch. f. Rechtsphil. III S. 321 und Lasson, 
Geschichtswissenschaft und Philosophie (in der Delbrückfestschrift). 
* In dieser Beziehung haben namentlich die neueren Franzosen Boutroux und Berg- 
son gegen die materialistische Anschauung des Zweimalzweikultes geschrieben. Daß die Meta- 
ronsi nicht nur eine künstlerische Schöpfung ist, welche insofern als Bereicherung der Ideenwelt 
u dienen hat, sondern daß sie auch bestimmt ist, sich der Wahrheit zu nähern, habe ich im Archiv für 
echtsphilosophie 1 S. 12 hervorgehoben.
	        
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