116 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
hatte, eine Schranke, die Bonifaz VIII. zugunsten der geistlichen Fürsten allgemein beseitigte. —
Die höchste Gerichtsbarkeit handhabte der König selbst als oberster Richter. Als Urteiler
sungierten nicht etwa ständige Pfalzschöffen, sondern die eben am Hofe anwesenden Fürsten,
Herren und Ministerialen, zumal die Reichshofbeamten. Diesem Mangel ständiger Urteil-
finder sowie dem Mangel eines ständigen Amtssitzes ist es hauptsächlich zuzuschreiben, daß das
deutsche Königsgericht auf die Rechtsprechung der Volksgerichte nicht jenen nachhaltigen zentrali-
sierenden Einfluß ausübte, den die französische und die anglonormannische curia regis durch
die Entwicklung gleichmäßiger Verwaltungspraxis und fester juristischer Technik erlangte. Der
König konnte im Königsgerichte einen Stellvertreter setzen. Bis ins 13. Jahrhundert geschah
dies von Fall zu Fall oder auf längere Zeit. 1235 schuf Friedrich II. das Amt eines ständigen
Hofrichters, der den normannisch-sizilischen Titel iustitiarius erhielt. Doch blieben gewisse
Sachen, namentlich die causae maiores der Fürsten und Fürstengenossen und die Verhängung
der Reichsacht, dem König vorbehalten. Vor das Reichshofgericht kamen Streitigkeiten im
Wege des Rechtszugs und wegen Justizverweigerung und HSerzögerung sowie alle Sachen,
in denen die Untergerichte nicht kompetent waren. Außerdem konnte es jede noch nicht rechts-
kräftig erledigte Streitsache aus jedem Gerichte an sich ziehen (ius evocande.
Als neue Rechte erwarb der König in dieser Periode das Spolienrecht, d. h. das Recht
auf den beweglichen Nachlaß eines verstorbenen Prälaten, das im 11. Jahrhundert entstandene
Bergregal, das Recht auf die in der Erde begrabenen Schätze, das meistens mit dem Zollrecht
verbundene Geleitrecht (ius conductus) und das Judenregal. Doch bewirkten sie keine wesent-
liche Erhöhung der königlichen Gewalt, zumal der König sie nicht festzuhalten vermochte, indem
er teils darauf verzichtete, teils durch Veräußerung oder Belehnung oder tatsächliche Duldung
sie den Landesherren einräumte, wie das auch hinsichtlich des Münzrechtes, des Rechts auf Zölle
und des Marktregals geschah.
Seit in der Thronfolge das Wahlprinzip völlig durchgedrungen war, bildeten sich im
13. Jahrhundert feste Grundsätze über die interimistische Ausübung der Reichsgewalt durch
Reichsvikare, Reichsverweser, während der Zeit, da der Thron ledig stand. Die goldene Bulle
überwies das Reichsvikariat in den Ländern des fränkischen Rechts dem Pfalzgrafen bei Rhein,
in den Ländern des sächsischen Rechts dem Herzog von Sachsen. Die Verleihung von Fahn-
lehen und die Veräußerung von Reichsgut war in den Vikariatsrechten nicht inbegriffen.
§ 35. Heer= und Steuerwesen. Die Reichsheerfahrten wurden herkömmlich auf den
Hof= und Reichstagen beraten und beschlossen. Von Heinrich V. ab bis ins 13. Jahrhundert
ließ sie der König von den anwesenden Großen ausdrücklich beschwören. Doch sollte die Heer-
pflicht dadurch nicht etwa erst begründet, sondern nur bestärkt werden, wie denn auch solche
aufgeboten werden konnten, die der Versammlung fern geblieben waren und nicht geschworen
hatten. Für Reichskriege verwendete man nicht mehr den allgemeinen Heerbann. Nur in
Fällen der Landesnot fand ein Aufgebot zur Landwehr statt, dem jedermann, auch der Un-
freie, innerhalb der Landesgrenzen zu folgen verpflichtet war. Theoretisch bestand zwar noch
der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht, allein die in der Kriegführung eingetretenen Ande-
rungen verlangten eine andere Art des Heerdienstes, als ihn die allgemeine Wehrpflicht zu
leisten vermochte. Seit Heinrich V. bestanden die Heere fast nur noch aus Reitern. Ihren Kern
bildeten die schwergerüsteten Reiter, die Panzerreiter. Die Leistung des Reiterdienstes setzte
größeren Grundbesitz und beständige Ubung voraus. Damit ergab sich bei Reichsheerfahrten
von selbst die Beschränkung des Aufgebotes auf jene Klasse der Bevölkerung, welche die mili-
tärische Ausbildung zum Lebensberufe machte. So verschwand der deutsche Bauer aus den
Reichsheeren, indem er gegen Zahlung einer Heersteuer auf seiner Scholle sitzen blieb. An
Stelle der allgemeinen Wehrpflicht trat die ritterliche Dienstpflicht, die auf den Vassallen, auf
den Dienstmannen und unfreien milites lastete. Das königliche Aufgebot erging jedoch — ab-
gesehen von den Reichsministerialen, unmittelbaren Reichslehnsmannen und Reichsstädten —
nicht an die Dienstpflichtigen, sondern an die geistlichen und weltlichen Großen, die ihrerseits
die Mannschaft aushoben und anführten. Die Truppen der aufgebotenen Reichsstädte und
die Reichsministerialen standen unter dem Befehle von Reichsvögten. Der einzelne Fürst hatte
nicht etwa stets seine ganze streitbare und ihm dienstpflichtige Mannschaft aufzubieten. An-