J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 9
nicht nur mit den Gestirnen zu tun hat, die wir sehen, sondern auch mit denen, die wir nur be-
rechnen und aus der Störung anderer erkennen und in ihren Bahnen verfolgen können. Von
der sinnlichen Erscheinung muß die Wissenschaft ausgehen; daß sie aber bei der sinnlichen Er-
scheinung stehen bleiben und nicht darüber hinaus auf das Ubersinnliche greifen dürfe, das ist
der Fehler, an dem seit Kant eine Reihe moderner Systeme krankt.
§ 6. Moderne ziele der Rechtsphilosophie.
Nach dieser philosophischen Grundlegung wird die Aufgabe der Rechtsphilosophie klar
hewortreten: wir haben die Ergebnisse der Rechtsgeschichte in Verbindung zu setzen mit der
ganzen Kulturgeschichte, wir müssen die Bedeutung der Kulturgeschichte im Weltall zu erkennen
suchen, und wir haben zu erforschen, welche Wirksamkeit einer jeden rechtlichen Einrichtung
und ihrer Geschichte in der Entwicklung der Kultur und damit in der Entwicklung des Weltalls
zukommt. Nur auf solche Weise ist überhaupt eine Rechtsphilosophie in unserem Sinne möglich.
Keine Rechtsphilosophie in unserem Sinne ist es, wenn man lediglich die Bestrebungen und
Zielpunkte unserer heutigen Entwicklung ins Auge faßt und danach bemessen will, wie wir
unser heutiges Recht gestalten sollen; das ist Sache der Rechtspolitik: es führt uns höchstens
zur Erkenntnis einer bestimmten Kulturstufe, es führt nicht zum Einblick in die Bedeutung des
Rechts in der Geschichte des Weltalls. Damit ist die „Rechtslehre“ gerichtet, welche aus römischem
und germanischem Recht ein Gebräu herstellt, ohne sich darum zu kümmern, daß es auch ein
Recht des Orients gegeben hat, und daß das englisch- und angloamerikanische Recht Züge auf-
weist, die von solch einer Rechtslehre bedeutend abweichen. Nur die Erfassung des Universal-
rechts gibt uns einen Boden für die Rechtsphilosophie; denn nur so können wir das Recht als
Faktor der Weiterentwicklung verstehen.
Noch weniger können wir als Rechtsphilosophie die Behandlung erachten, welche dahin
geht, alles Recht aus gewissen Nützlichkeits- und Zweckbestrebungen zu entwickeln. Sofern
diese Richtung mit der vorigen zusammenfällt, indem sie einfach die heutigen Zwecke und Ziele
und, damit verbunden, die heutigen Rechtseinrichtungen betrachtet, gilt das vorhin Gesagte.
Soweit aber damit eine Entwicklung des Rechts überhaupt gegeben werden soll, ist sie entweder
nichtssagend oder grundirrig. Betrachtet man nämlich das Zweckbestreben als ein Bestreben
nach Maßgabe der göttlichen Weltentwicklung, so ist mit dem Zweck im Recht so lange nichts
gesagt, als nicht die Weltentwicklung und ihre Zwecke klargelegt oder doch wenigstens angedeutet
sind. Betrachtet man aber die Zwecke und Ziele lediglich als Glücklichkeitszwecke des oder der
Menschen, nimmt man an, daß nur das Streben nach dem Glücke, — nur der Egoismus des
Einzelnen, der sich immer das Beste sucht, oder der vereinigte Egoismus Mehrerer, der das
Beste der Mehreren sucht, um das Glück der Einzelnen zu begründen —, der berechtigte Bildner
der Rechtsordnung sei, so geht die philosophierende Zwecklehre über in einen öden Eudämonis-
mus, der von der ebenso grundirrigen wie seichten Voraussetzung beherrscht wird, daß das mög-
lichste Glück das Ziel alles menschlichen Bestrebens sei. Das ist grundirrig, denn schließlich wird,
alles in allem genommen, der unentwickelte, nur im Außeren lebende Mensch, der einen sehr
geringen Gesichtskreis hat, vom eudämonistischen Standpunkt aus als der Mensch mit größtem
Glücke bezeichnet werden können, nicht der Mensch, der ahnungsvoll faustisch strebt und ringt;
der Erfinder der sterilisierten Milch ist hiernach ein größerer Mann als Homer und Goethe, und
die Einrichtung der Volksküchen ist eine größere Tat als die Schöpfung des Tristan! Und wollte
man dies auf die ganze Menschheit anwenden und sagen, daß diejenige Nation, die das meiste
Glück in sich trug, die bedeutendste war, so wird man der Kultur ins Gesicht schlagen; denn
gewiß hat die Zeit, die die größten Denker, Dichter, Maler, Musiker und Bildhauer hervorbrachte,
nicht etwa den Stempel des größten Glückes an sich getragen; weder das perikleische Zeitalter
noch das Ouattrocento, noch die Zeit Raffaels ist die glücklichste gewesen. Das aber drängt
sich sofort auch dem minder tiefen Denken als unvermeidliche Wahrheit auf, daß die Nation,
welche in den Ergebnissen ihrer Kultur die höchsten Werte schafft, die bedeutendste ist und am
meisten den Zwecken des Weltwesens entspricht, nicht diejenige, in welcher der Philister seine
glücklichsten Tage verlebt: Es lebe der Philister in seinem behaglichen Heim! Hoch klingt das
Lied vom braven Mann mit Orgelton und Glockenklang!