Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 129 
War der Beklagte nicht ergriffen worden, so konnte unter Beobachtung bestimmter Förmlich- 
keiten eine kampfliche Ansprache stattfinden. Gegen die peinliche Klage, die nicht um hand- 
hafte Tat und ohne kampflichen Gruß erhoben wurde, mochte sich der Beklagte mit Eidhelfern 
verteidigen. Dem Verletzten stand es übrigens frei, die peinliche Klage zu verschmähen und 
eine bürgerliche (schlichte oder mit Zeugnis verstärkte) Klage anzustrengen. Er mochte auch, 
wenn er wollte, seinen Schaden völlig verschweigen und etwa die Ahndung der Tat dem Rüge- 
verfahren überlassen. Doch bildeten manche Stadtrechte als Ersatz des Rügeverfahrens einen 
Anklagezwang aus, indem der Rat den Verletzten zwingen konnte, wegen gemeinschädlicher 
Missetat Klage zu erheben. Anderwärts wurde es üblich, daß in Fällen, in welchen weder eine 
Privatklage, noch eine Rüge vorlag, das Gericht von Amts wegen einschritt, indem der Richter 
selbst die Anklage erhob oder zur Wahrung der Form einen Ankläger bestellte. 
Wenn der Beklagte auf mehrmalige Vorladung nicht vor Gericht erschien, so wurde er 
verfestet; er verlor in dem Sprengel des verfestenden Gerichts die Fähigkeit, gerichtliche Hand- 
lungen vorzunehmen. Betraf man ihn, so durfte man ihn binden und vor Gericht bringen, 
wo er behandelt wurde wie ein auf handhafter Tat ertappter Missetäter. Der Kläger wurde 
gegen ihn sofort zum Beweise zugelassen. Verurteilt, konnte er das Urteil, das ihm stets an den 
Hals ging, nicht schelten und die zuerkannte Strafe nicht ablösen. Bei andauernder Kontumaz 
wurde die Verfestung zur Reichsacht ausgedehnt, welche für das ganze Reich dieselben Wirkungen 
hatte, wie die Verfestung für den einzelnen Gerichtssprengel. Blieb jemand durch Jahr und 
Tag in der Reichsacht, so verfiel er in die Aberacht; er wurde friedlos und konnte von jedermann 
bußlos getötet werden. 
Während für die karolingische Zeit ein periodisch wiederkehrendes Rügeverfahren sich 
nicht nachweisen, wenn auch vermuten läßt, sind uns in nachfränkischer Zeit regelmäßige Rüge- 
gerichte bezeugt. Die Rüge findet auf dem echten Dinge statt. Sie wird auf die richterliche 
Frage hin erbracht. Entweder ist die Gesamtheit der Dinggenossen, oder es sind die Gemeinde- 
vorsteher, Heimburgen oder Bauermeister rügepflichtig. Nach der Fragestellung ziehen sich 
die Rügepflichtigen zu einem Gespräche zurück, um dann durch einen aus ihrer Mitte die Rüge 
abzugeben. Neben dem Rügen auf Verdacht, von dem der Gerühgte sich reinigen mag, kannte 
man ein Rügen auf Wahrheit, das als Uberführungsbeweis behandelt wurde, wenn mindestens 
etliche der Rügegeschworenen die Tat wahrgenommen hatten. 
Besondere Grundsätze des Verfahrens beobachteten die westfälischen Fem- 
gerichte. In Westfalen hatte sich die karolingische Gerichtsverfassung länger als ander- 
wärts erhalten, indem hier der Stand der Gemeinfreien der allgemeinen Zersetzung des Stände- 
wesens einen zäheren Widerstand entgegensetzte. Während sonst in Deutschland das Erforder- 
nis der königlichen Bannleihe für die höheren Richter hinwegfiel, haben die westfälischen Frei- 
grafen nach wie vor den Gerichtsbann direkt vom König empfangen. Da in den Frei= oder 
Femgerichten demnach bei Königsbann gerichtet wurde, galten sie als königliche und nicht als 
landesherrliche Gerichte, eine Stellung, die sie infolge der bereits erlangten festen Organisation 
auch dann noch behaupteten, als König Wenzel 1382 dem Erzbischof von Köln als Herzog von 
Westfalen das Recht verlieh, den von ihm bestellten Freigrafen den Blutbann selbst zu über- 
tragen. Die Gerichte, die bei Königsbann gehegt wurden, zeichneten sich von je durch gewisse 
Förmlichkeiten aus, die sich in den westfälischen Freigerichten erhielten und allmählich den 
Charakter des Geheimnisvollen annahmen. So konnte es kommen, daß die Femgerichte, welche 
ihre Einrichtung auf Karl den Großen zurückführten, sich im Bewußtsein ihres Gegensatzes zu 
den landesherrlichen Gerichten nach Art eines Geheimbundes organisierten. An der Spitze 
jeder Freigrafschaft stand ein Freigraf, der ebenso wie die Freischöffen ein freier Mann sein 
mußte. Die Aufnahme als Freischöffe konnte nur auf roter (westfälischer) Erde geschehen; sie 
erfolgte in feierlicher Form, indem der Aufzunehmende in die Geheimnisse der Feme einge- 
weiht wurde und einen Eid ablegte, die Feme geheimzuhalten vor Weib und Kind, vor Sand 
und Wind. Als eigentlich königliche Gerichte dehnten die Femgerichte ihre Jurisdiktion über 
das ganze Reich aus. Die Gerichtsversammlungen waren teils offene (gemeine), teils heim- 
liche Dinge. Zu jenen wurden alle Gerichtspflichtigen, zu diesen nur die Wissenden geladen. 
Die Stillgerichte fanden anfangs nur statt, wenn es sich um Verurteilung eines Wissenden 
handelte oder ein Unwissender auf die Vorladung nicht erschien. Da man seit Ausgang des 
Encyklopädie der Nechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band I. 9
	        
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