J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 11
verlästerte Satz, den manche als das Wahrzeichen des Quietismus oder der Staatsversumpfung
dargestellt haben, ist der Eckstein der Weltgeschichte; denn alles Wirkliche erfüllt in der Ent-
wicklung seine Aufgabe und arbeitet an der Fortsetzung des Weltprozesses, und mag es auch
die Tat des Teufels sein. Dieser Satz ist entwicklungsgeschichtlich so selbstverständlich, daß die
Verkennung desselben kein günstiges Zeichen für die philosophische Einsicht der Menschheit gibt,
und Röder I S. 39 nimmt sich sogar heraus, hier von einer „dreisten Behauptung“ Hegels
zu sprechen! Allerdings habe auch ich eine mißverständliche Behandlung zu erfahren gehabt,
als ich in meinem „Shakespeare“ die Behauptung aufstellte, daß der Fortschritt der Welt-
geschichte auch durch das Unrecht hindurchgehe und der Schritt des Schicksals stets über Leichen
wandle. Man hat mir vorgehalten, daß ich damit Gewalttätigkeiten, Autodafés und Juden-
verfolgungen gerechtfertigt hätte. Darauf noch ein Wort zu erwidern wäre überflüssig — wir
sind glücklicherweise über die Banalitäten Iherings hinaus. Ebenso großartig ist Hegels
Vorstellung über die Ehe (Philosophie des Rechts § 161), welche zwei Momente enthalte,
nämlich die Wirklichkeit der Gattung und deren Prozeß und sodann die Ein-
heit der. natürlichen Geschlechter, die in eine geistige Liebe umgewandelt
werde. Vorzüglich und bahnbrechend ist, was er von der Nationalökonomie spricht, ganz
hervorragend endlich sind seine Ausführungen über Unrecht und Strafe.
Den Staat konstruiert er (§ 257) etwas übertreibend als die „Wirklichkeit der
sittlichen Idee“, und Savignys Schrift über den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung
findet seinen besonderen Tadel (sie sei einer der größten Schimpfe, die unserer Nation angetan
werden können).
Daß auch dieser Geist sich nicht immer treu geblieben ist, mag man bereitwillig anerkennen.
In der Rechts- wie in der Religionsphilosophie ist es sein Fehler gewesen, daß er gewisse Ein-
richtungen und Stufen der Entwicklung — die wir von unserem Standpunkt aus allerdings
als Errungenschaften ersten Ranges, aber doch eben nur als geschichtliche Errungenschaften
und Außerungen des ständig flutenden Entwicklungstriebes annehmen müssen — als absolut
und als den Endpunkt der Entwicklung überhaupt darstellte, als ob das Buch Klios je zu Ende
wäre und wir nicht noch viele Seiten der Entwicklung zu erwarten hätten. Es ist ebenso un-
richtig, wenn er etwa die konstitutionelle Monarchie als die absolute Staatsform bezeichnete,
wie wenn er die Entwicklung, welche die christlichen Ideen in einem bestimmten Zeitpunkt ge-
nommen hatten, als die absolute Religion erachtete. Beides mag nach unserer heutigen Auf-
fassung der Glanzpunkt der Errungenschaften sein, aber wir dürfen immer nur von unserer
heutigen Vorstellung, nicht von den Zeiten sprechen, die künftig sein werden, und über deren
Entwicklung uns kein abschließendes Urteil zusteht. Ebenso sind seine Ausführungen über das
abstrakte Recht, namentlich über das Eigentum, noch in naturrechtlicher, ungeschichtlicher Be-
trachtung befangen 1.
Doch dies sind Beschränkungen, die um so begreiflicher erscheinen, wenn man erwägt,
wie gewaltig die naturrechtliche Vorstellung damals alles umfaßte. Hegels und Schellings
Einfluß auf die historische Schule sind denn auch unverkennbar, wenn auch Savigny und Puchta-
in ihrer philosophischen Anschauung nicht über das Dilettantische hinaus gekommen und nament-
lich den Anschluß an Hegel verschmäht haben 2.
Im übrigen hat die nachfolgende Zeit nichts Ahnliches aufzuweisen, wie die vom 25. Juni
1820 datierte „Philosophie des Rechts“ Hegels, und es ist geradezu erstaunlich, wie dieser große
Pantheismus Hegels von Krause, Ahrens und Röder verseichtet wird. An Stelle
der Universalität der Entwicklung, an Stelle der Weltbewegung, in welcher der Einzelne nur
als Glied des Ganzen wirkt, tritt wieder der naturrechtliche Individualismus, und das Wesent-
liche des Rechts soll sein, zu bewirken, daß der einzelne Mensch zu seiner vollen Entwicklung
gelange. Anm seltsamsten ist es, wenn dieser große Weltpantheismus in der Art verkannt wird,
daß man (mit Ahrens vfürchtete, daß hierdurch die einzelne Persönlichkeit mit ihrem Adel
und ihrer Freiheit zugrunde ginge! Das kann nur befürchten, wer es nicht vermag, die Selb-
1 Hierüber meine Besprechung, Archiv f. Rechtsphiül. V S. 110.
Vgl. hierüber Brie im Archiv f. Rechtsphil. II S. 1 f., 179f., Kantorowicz, Volks-
geist und historische Rechtsschule, Historische Z. 108 S. 295 f., wo weitere Literatur.