Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

12 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
ständigkeit des Einzelwesens mit seiner metaphysischen Zusammengehörigkeit zu dem großen 
Weltganzen zu vereinen; und wer dies nicht vermag, gibt damit von selber kund, daß er dem 
spekulativen Denken fernsteht. 
Schopenhauer, der sowohl um die Metaphysik als auch namentlich um die Moral- 
lehre große Verdienste hat, und der vor allem zuerst die indische Philosophie mit ihrer unend- 
lichen Tiefe würdigte, hat die Rechtsphilosophie leider nur in einzelnen Punkten weitergebildet: 
wir finden da und dort Edelsteine einer klaren, tiefdringenden Anschauung und eines von der 
ewigen Sonne des Weltganzen beleuchteten Denkens, nirgends aber ein ausgebildetes System 
der Rechtsphilosophie oder auch nur den Ansatz dazu . 
Auch Eduard von Hartmann, dem namentlich die Morallehre und ihre Be- 
gründung viel zu verdanken hat, hat das rechtsphilosophische System Hegels nicht weitergebildet. 
Eine wesentliche Fortbildung erfuhr dagegen die Rechtsphilosophie wie die Philosophie 
überhaupt durch Nietzsche; er befreite das Recht aus den Banden der üblichen Moral- 
vorstellungen, betonte die Stellung des Genies in der Kulturwelt und vertiefte unsere Kenntnis 
von der Menschheitsentwicklung und von der Aufgabe des Staates ?2. 
Bedeutsam ist ferner, auf Hegelschem Standpunkt stehend, (1882) Lassons „Rechts- 
philosophie“, die in verschiedenen Punkten wesentlich über den Herrn und Meister hinausgeht; 
allerdings kann ich nicht übereinstimmen mit der Uberschätzung der nikomachischen Ethik (S. 58 f.); 
und was er über das Recht der Naturvölker sagt (S. 263), wird er wohl heutzutage selber nicht 
mehr aufrechterhalten; es stammt aus einer Zeit, wo die vergleichende Rechtswissenschaft sich 
noch im Stadium des spielenden Dilettantismus bewegte. 
Die Stahlsche Rechtsphilosophie mit ihrer ständigen Schulmeisterung Hegels, mit 
ihrem abstoßenden, stets befangenen Charakter und ihrem Dunkelmänmersinn (vgl. z. B. I S. 428, 
458) lasse ich unerwähnt beiseite. 
Die englischen Naturrechtler, wie Augustin und Holland (Elements of Jurisprud. 
10. Aufl. 1906), vertreten einen Stand der Betrachtung, über den wir uns längst erhoben haben. 
Auf Herbarts Mißfallen am Streit brauche ich wohl nicht einzugehen. Ebenso können 
die unfruchtbaren Bestrebungen der Neukantianer, vor allem Stammlers mit seiner ver- 
fehlten Methode und seinem Phantom des richtigen Rechts auf sich beruhen s. 
Dagegen kann uns nicht erspart bleiben, auf ein Werk hinzuweisen, das mit einer ge- 
waltigen Absicht auftritt, als wolle es zuerst eine brauchbare Rechtsphilosophie aufstellen, als 
habe Hegel eigentlich noch gar nichts erreicht, und das doch selbst geradezu nichts leistet und zu 
keinem einzigen haltbaren Ergebnis gelangt: Iherings „Zweck im Recht“, Bd. I und II. 
Dem Werk fehlt jede metaphysische Grundlage; es wird alles auf Sand gebaut: die Einzel- 
wesen sind einmal da, die Gesellschaft ist einmal da — was sich weiter um ihre philosophische 
Grundlegung kümmern? Was über Raum und Zeit philosophieren? In der Tat steht 
Iherings Metaphysik ungefähr auf dem Stande der Metaphysik eines friesischen Landpastors; 
gibt er doch selber zu, daß er s. Zt. sich nicht in die Hegelsche Denkweise hineingelebt hat (Vor- 
rede I S. VIII). 
Nicht die Kausalität, sondern der Zweck schaffe das Recht; das wird als eine große Ent- 
deckung ausgesprochen: in der Tat ist es nichts anderes als eine Verwässerung und Verseichtung 
der pantheistischen Entwicklungslehre; was sich auf dem höchsten philosophischen Gebiete von 
selber darlegt: die Entwicklung des Weltganzen mit seinem innewohnenden Zwecktestreben, 
das wird in die Sprache des philosophierenden Triviums umgesetzt. Das Zweckbestreben sei 
in jedem Einzelwesen natürlich zunächst ein egoistisches, aber es werde zur Sittlichkeit, wenm 
1 Bgl. Weigl, Die politischen und sozialen Anschauungen Schopenhauers (1899), nament- 
lich S. 7 f. über die Rechtslehre; Daamm, Schopenhauers Rechts- und Staatsphilosophie (1901), 
namentlich S. 20 f., 29 f., Warschauer, Schopenhauers Rechts= und Staatslehre (1910). 
In der Staatslehre neigte er zum Vertragsstaat, im Strafrecht zur Abschreckungstheorie. Hervor- 
ragend aber und fruchtbar sind seine Außerungen über die Ehre und über den Nachdruck. Bgl. 
auch Koch, Schopenhauers Abhandlung über die Freiheit des menschlichen Willens (1891) und 
Neumark, Freiheitslehre bei Kant und Schopenhauer (1896). 
Über Nietzsches Rechtsphilosophie vgl. Archiv f. Rechtsphil. I S. 355. 
: Bal. biergegen meine Ausführungen im Archiv f. Rechtsphil. I S. 4f., Kantorowicz 
ebenda II S. 42, Berolzheimer ebenda V S. 311.
	        
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