156 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
dem Kreise der Rechtsgelehrten auswählte. Als 1495 das Reichskammergericht gegründet wurde,
ließ man die Beisitzer, die zur Hälfte Rechtsgelehrte sein sollten, schwören, zu richten nach des
Reiches gemeinen Rechten, eine Formel, in der das römische Recht inbegriffen ist. Nachdem
das oberste Reichsgericht vorausgegangen war, mußten die Territorial- und Stadtgerichte in
ihrer Eigenschaft als untere Instanzen notgedrungen nachfolgen. Ubrigens war in den Terri-
torien ein ähnlicher Prozeß wie am Königshofe eingetreten, indem einerseits die Parteien nicht
selten Rechtsstreitigkeiten den absterbenden Schöffengerichten entzogen und dem Spruch der
rechtsgelehrten landesherrlichen Verwaltungsbeamten zuwiesen und andererseits die terri-
torialen Obergerichte nach dem Vorbild der Reichsgerichte mit Rechtsgelehrten besetzt wurden.
Am längsten hielt sich von fremder Beimischung das Dorfrecht frei, dessen Quellen, die Weis-
tümer, noch geraume Zeit eine Fundgrube volkstümlicher Rechtsanschauung abgeben.
In dem Kampfe zwischen einheimischem und fremdem Rechte fand dieses kräftigste Unter-
stützung an den Universitäten, die in Deutschland seit der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden
waren. Die Lehrtätigkeit der Universitäten widmete sich nur dem fremden, zuerst dem kanonischen,
seit dem 15. Jahrhundert auch dem römischen Rechte. Auf dem fremden Rechte fußte die Spruch-
praxis der Juristenfakultäten, mit der diese zum Teil an die Stelle der alten Oberhöfe traten.
Zugunsten des fremden Rechtes wirkte eine fast unübersehbare juristische Literatur, die,
zu populärem Zweck geschrieben, die Lehren des römischen und kanonischen Rechtes den Un-
gelehrten zugänglich zu machen suchte. Sie war zum Teil eine alphabetisch-enzyklopädische,
die mit dem 14. Jahrhundert begann und in dem oft gedruckten Vocabularius juris utriusque
des Jodocus von 1452 ihren Abschluß fand. Neben ihr stehen populäre systematische Dar-
stellungen, von welchen als die älteste die Lumma legum des Raymund von Wiener-Neustadt
zu nennen ist, ein Lehrbuch des Privat= und Strafrechts, vom Verfasser zum Nutzen seiner Söhne
mit Berücksichtigung deutscher Rechtsinstitute auf Grundlage der italienisch-romanistischen Litera-
tur im 14. Jahrhundert, wahrscheinlich 1340—1348, verfaßt. Unter den in deutscher Sprache
abgefaßten Werken der Vulgärliteratur gewannen den nachhaltigsten Einfluß auf die Praxis
die um 1425 von einem Stadtschreiber zu Schwäbisch-Hall verfaßte Schrift: clag, antwort und
ausgesprochene urteyl gezogen aus geystlichen und weltlichen Rechten, die 1516 von Sebastian
Brant unter dem Titel Klagspiegel herausgegeben wurde, und ferner der von Ulrich
Tengler 1509 verfaßte Laienspiegel, eine enzyklopädische Darstellung des Privat-, Straf- und
Prozeßrechtes, die neben der fremdrechtlichen Literatur auch deutsche Rechtsquellen benutzt.
Rezipiert wurde in Deutschland 1. das römische Recht in dem unten anzugebenden Sinne;
2. das corpus jiuris canonici (clausum), d. h. es wurde dessen Inhalt, der in den geistlichen
Gerichten von je bindend war, auch in den weltlichen Gerichten als Entscheidundsnorm maß--,
gebend; 3. das langobardische Lehnrecht, enthalten in den consuetudines oder libri feudorum
einer Kompilation von Stücken verschiedener Entstehungszeit, die teils zu Pavia, teils zu Mai-
land auf Grundlage der Lehnrechtsgesetze Konrads II., Lothars III. und Friedrichs I. und der
Mailänder Lehnspraxis entstanden sind. Die jüngste Rezension dieser Sammlung wurde von
dem Juristen Hugolinus de Presbytero als decima collatio novellarum in das corpus iuris
civilis ausgenommen und mit diesem in Deutschland rezipiert.
Was das wichtigste der fremden Rechte, das römische Recht, betrifft, so unterscheiden sich
die theoretische und die praktische Rezeption in bezug auf ihren Gegenstand, ihren Umfang und
ihre Wirkung. Die theoretische Rezeption hatte zum Obiekt die justinianischen Rechtsbücher,
Institutionen, Pandekten, Kodex und Novellen. Sie war nicht eine Rezeption einzelner Rechts-
sätze und Rechtsinstitute, sondern erfaßte das corpus juris eivilis in complexu, hat es aber nur
als subsidiäres Recht rezipiert. Dagegen fußt die praktische Rezeption auf der Rechtswissen-
schaft, welche sich auf Grund des corpus iuris civilis, dessen Lehren vielfach modernisierend und
umgestaltend, in Italien ausgebildet hatte. Wie die praktische Rezeption einerseits das durch
die italienische Rechtswissenschaft vermittelte Recht zum Gegenstand hat, erstreckte sie sich anderer-
seits nicht auf das römische Recht in complexu, sondern nur auf einzelne, wenn auch zahlreiche
und tiefgreifende Rechtssätze und Rechtsinstitute, brachte sie aber ohne Rücksicht auf die Sub-
sidiarität des fremden Rechtes zur absoluten Geltung. Der Gegensatz zwischen der theoretischen
und praktischen Rezeption ist zum Teil ein ungelöster geblieben und überhaupt kaum recht zum
Bewußtsein gelangt. Das zeigt sich u. a. darin, daß die romanistische Theorie und Praxis sich