1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 157
bis Ende des vorigen Jahrhunderts vielfach nicht hineinzudenken vermochten in den zweifellos
richtigen Gedanken, daß das Ergebnis der praktischen Rezeption, auch wenn es auf einem Miß-
verständnisse der römischen Rechtsquellen beruhte, die Anwendung des reinen römischen Rechtes
ausschloß. Ubrigens sind jenem Gegensatz zwischen der theoretischen und praktischen Rezeption
schon während der Rezeption die äußersten Spitzen abgebrochen worden, indem man 1. die
Geltung des corpus iuris civilis, um sich abzufinden mit der Tatsache, daß es Rechtssätze enthielt,
die nicht in Anwendung kamen, auf die glossierten Stellen beschränkte, welche allein die italienische
Rechtswissenschaft aufgenommen hatte, indem man ferner 2. zu dem Begriffe eines usus
hodiernus pandectarum seine Zuflucht nahm, um sich hinwegzuhelfen über die Tatsache, daß
Rechtssätze zur Anwendung kamen, die das corpus civilis juris nicht enthielt, und indem man
endlich 3. die absolute Anwendung des fremden Rechtes dem einheimischen gegenüber damit
bemäntelte, daß man jenem fälschlicherweise fundatam intentionem zuschrieb, die einheimischen
Rechtssätze als kacta zum Gegenstande rechtsförmlichen Beweises machte und auf sie den Grund-
satz anwendete, daß sie strikte zu interpretieren seien, und zwar in dem Sinne, der dem fremden
Rechte am besten entspricht. So kam es, daß das deutsche Recht von den gelehrten und halb-
gelehrten Juristen, mit welchen die Gerichte besetzt waren, in ungebührlichster Weise beiseite
geschoben und vernachlässigt wurde. Nur in den Ländern des sächsischen Rechts, wo man fester
an dem hergebrachten Rechte hielt, stellte sich ein günstigeres Verhältnis her, indem die Kenntnis
des gemeinen sächsischen Rechtes, wie es sich auf Grund des Sachsenspiegels und der über ihn
entstandenen Literatur gebildet hatte, als Pflicht des Richters angesehen wurde, so daß über
den Landes= und Ortsrechten zunächst das gemeine sächsische und erst hinter diesem subsidiär
das gemeine römische Recht zur Anwendung gelangte.
Die Tatsache der Rezeption an sich ist nicht anzufechten. Sie bedarf keiner Verteidigung,
wenn man von der Ansicht ausgeht, daß aller Kulturfortschritt der Menschheit die Aufnahme
und innerliche Verarbeitung vorhergegangener Kultur zur Voraussetzung hat. Ihre Erklärung
findet sie in dem damaligen Zustande des deutschen Rechtes. Die Entwicklung größeren Verkehrs
forderte ein einheitliches Recht, die Steigerung der Kultur ein wissenschaftliches Recht.
Da die einheimische Rechtsentwicklung nicht über ihren Partikularismus hinauskam, ist
ungefähr um dieselbe Zeit, als über den verschiedenen deutschen Mundarten eine gemeinsame
deutsche Schriftsprache erwuchs, das römische Recht als gemeines geschriebenes Recht Deutsch-
lands zur Herrschaft gelangt. Zu dem Verlangen nach einem gemeinen Rechte gesellte sich
in der Zeit der humanistischen Renaissance bei den oberen Schichten des deutschen Volkes die
Sehnsucht nach einem wissenschaftlichen Rechte. Das damalige deutsche Recht ließ aber eine
wissenschaftliche Behandlung vermissen, wie sie dem römischen Rechte durch die römischen Juristen
und durch die italienische Rechtswissenschaft zuteil geworden war. Ubrigens war das deutsche
Recht gerade damals in einer Umbildung begriffen, die auf vielen Gebieten im mos italicus
Anknüpfungspunkte fand, so daß dessen Aufnahme hierin nur als Abschluß einer im einheimischen
Rechte bereits angebahnten Entwicklung erscheint. Solche Annäherung mußte die Rezeption
erleichtern, während die Volksrechte gerade wegen ihres größeren Gegensatzes zum römischen
Rechte, trotz enger örtlicher Berührung, gegen dasselbe standgehalten hatten. In England
und in Frankreich, wo die Aufnahme römischer Rechtsgedanken früher erfolgte, hat diese nach
Art einer prophylaktischen Impfung gewirkt und das mit ihnen gesättigte nationale Recht gegen
zerstörende Infektionen widerstandsfähig gemacht. In Deutschland ist die Rezeption erst zu
einer Zeit eingetreten, als die mittelalterlichen Lebensformen bereits der Auflösung oder Ver-
steinerung entgegenreiften, als die Zersplitterung der Gerichtsverfassung und die Schwächung
der Reichsgewalt zu weit gediehen waren. Die Rezeption hat in Deutschland so intensiv ge-
wirkt, weil sie so spät sich durchsetzte, und weil die deutschen Juristen ihrer Pflichten gegen das
einheimische Recht uneingedenk und daher ihren Aufgaben nicht gewachsen waren.
Die Verfassung des deutschen Königsgerichtes hatte es ebensowenig wie die deutschen
Volksgerichte und Schöffengerichte zur Ausbildung eines geschulten Juristenstandes kommen
lassen. Da ein solcher erst in der einheitlichen Schule des fremden Rechtes erwuchs, war er
genötigt, mit der Existenz des fremden Rechtes zugleich die eigene Existenz zu erkämpfen. Allein,
was stets Tadel und Vorwurf hervorrufen wird, ist die Art, wie die Rezeption von ihm durch-
geführt wurde. Ein nationales Unglück war jenes engherzige Ignorieren des deutschen Rechtes,