Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 161 
Nachhaltiger wirkte die naturrechtliche Schule, die das Recht — zum Teil in Abweichung 
vom römischen Rechte — aprioristisch konstruierte und mitunter deutschrechtliche Gedanken, 
dem Zuge der damaligen Kulturverhältnisse folgend, als Forderungen der Vernunft formu- 
lierte. Den Gedanken der Kodifizierung des Rechtes griff sie lebhaft auf; ihr ist es zu danken, 
daß man den Mut und das Selbstvertrauen fand, die Kodifikationspläne durchzuführen. Da 
dem Reiche tatkräftige Organe fehlten, die geeignet gewesen wären, das Werk in die Hand zu 
nehmen, so konnte eine Kodifikation nicht von Reichs wegen, sondern nur im Wege der Territorial- 
gesetzgebung erfolgen. Zuerst war es der preußische Staat, in welchem der Gedanke der natur- 
rechtlichen Schule praktisch erfaßt wurde. Schon 1738 gab Friedrich Wilhelm I. seinem „ministre 
chef de justice“, Samuel von Cocceji, den Auftrag, ein beständiges und ewiges Landrecht ab- 
zufassen, wodurch das römische Recht ersetzt werden sollte. Unter Friedrich dem Großen arbeitete 
Cocceji ein Projekt eines corpus iuris Fridericiani aus, von welchem zwei Teile, 1749 und 1751, 
veröffentlicht wurden. Das Projekt scheiterte an dem berechtigten Widerspruch gegen seine 
romanisierende Tendenz. In rascheres Tempo kamen die Gesetzgebungsarbeiten erst, als Friedrich 
der Große sie 1780 seinem Großkanzler von Carmer übertrug, dem Carl Gottlieb Svarez (1 1798) 
als begabteste und tüchtigste Hilfskraft zur Seite gestellt wurde. Svarez arbeitete auf Grund 
eines älteren Entwurfs von 1775 eine Prozeßordnung aus, die 1781 als erstes Buch eines corpus 
juris Fridericianum veröffentlicht wurde. Schon 1783 folgte die von Spvarez verfaßte Hypo- 
thekenordnung. Die Kodifikation des materiellen Rechtes wurde 1791 als allgemeines Gesetz- 
buch für die preußischen Staaten verkündet, aber bald darauf wieder zurückgezogen. Nachdem 
sie in einzelnen Materien revidiert worden war, trat sie gemäß Patent vom 5. Februar 1794 
unter dem Titel „Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten“ am 1. Juni 1794 als 
subsidiäres Recht in Kraft. Inzwischen hatte sich eine Revision der hastig hergestellten Prozeß- 
ordnung von 1781 als notwendig erwiesen. Ihr Ergebnis, gleichfalls ein Werk von Svarez, 
wurde als allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten in drei Teilen 1793—1795 
verkündigt. Endlich wurde das Strafprozeßrecht durch eine Kriminalordnung von 1805 geregelt. 
In Osterreich erfolgte der Abschluß der Kodifikationsarbeiten durch das Allgemeine bürger- 
liche Gesetzbuch von 1811, durch die Allgemeine Gerichtsordnung von 1781 und das Gesetz über 
Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen von 1803, dem eine Halsgerichtsordnung von 
1769, ein Strafgesetz von 1787 und eine Kriminalgerichtsordnung von 1788 vorausgegangen 
waren. 
In einem Teile von Deutschland kam in der Zeit der französischen Vorherrschaft franzö- 
sisches Recht zur Geltung, wie es durch Napoleon I. kodifiziert worden war, nämlich der Code 
civil von 1804, revidiert 1807, der Code de commerce von 1807, der Code de procédure civile 
von 1806, der Code d’instruction criminelle von 1808 und der Code pénal von 1810. Eine amt- 
liche Ubersetzung des Code civil und des Code de commerce mit Zusätzen und Abänderungen 
wurde 1809 in Baden als Badisches Landrecht nebst einem Anhang von Handelzsgesetzen ver- 
kündet. Französisches Recht behauptete sich als Landesrecht in den Ländern links des Rheins, 
in Elsaß-Lothringen und in Baden. 
Das Königreich Sachsen erhielt 1863 ein bürgerliches Gesetzbuch als eine etwas verspätete 
Frucht des deutschen Rechtspartikularismus. « 
In der Kodifikation des Strafrechts und des Prozeßrechts war Bayern allen deutschen 
Territorien vorangeeilt durch die Abfassung des Codex juris bavarici criminalis von 1751 und 
des Codex iuris bavarici iudiciarü von 1753. Auch in vielen anderen deutschen Staaten schwang 
sich auf diesen Gebieten die jüngere Landesgesetzgebung zur Ausschließung der fremden Rechte auf. 
§ 65. Die Rechtseinheit. In der Zeit der Befreiungskriege zog der allgemeine Auf- 
schwung des deutschen Volkes auch die Rechtsreform in den Wellenschlag der nationalen Be- 
geisterung hinein. Von verschiedenen Seiten wurde damals der Ruf nach einer einheitlichen 
Gesetzgebung erhoben. Den meisten Nachhall fand eine Flugschrift Thibauts, die eine gemein- 
same Kodifikation des Privat-, Straf= und Prozeßrechtes verlangte. Allein Thibauts Vorschlag 
hatte nur die Wirkung, eine berühmte literarische Kontroverse hervorzurufen. Er veranlaßte 
Savigny, eine Gegenschrift abzufassen, die den Kodifikationsgedanken grundsätzlich bekämpfte 
und zugleich das Programm der nunmehr zur Herrschaft gelangenden historischen Rechtsschule 
Encyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band I. 11
	        
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