J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 13
nicht der Egoismus des Einzelnen, sondern der Egoismus der Gesellschaft in Tätigkeit trete.
Was sind das aber für Zwecke, für welche der Egoismus der Gesellschaft tätig ist? Zwecke des
Wohlbefindens, des Glückes, erhabener Gesinnung? Dafür bekommen wir sehr schwankende
Auskunft (II. S. 204); im übrigen sei die Wirksamkeit des gesellschaftlichen Egoismus etwas
Sekundäres, was erst im Laufe der Jahrhunderte eintrete und den Einzelnen sich untertan
mache — eine Ansicht, die den ersten Daten der Geschichte widerspricht; denn soweit wir zurück-
greifen, finden wir in der Menschheit altruistische Beweggründe: die Kindesliebe und die Gast-
freundschaft sind älter als das Eigentum, ja, die sozialen Triebe wiegen im Anfang weitaus
vor, der Egoismus des Einzelnen entwickelt sich erst später 1; und wenn man noch gar gemeint
hat, daß erst spätere Zeiten die Gastfreundschaft erfunden hätten, so zeugt dies von einem
völligen Mißverständnis des Denkens und Treibens der Naturvölker; die ganze Betrachtungs-
weise krempelt die Geschichte um und verkehrt sie von Anfang zu Ende.
Ist es also mit dieser Herleitung der Sittlichkeit nichts, so sind auch die Betrachtungen
über die Sitte ohne jede ethnologische Grundlegung und darum dilettantisch und unbrauchbar.
So wird II, S. 312 über die Herkunft der Trauerkleidung gehandelt ohne Ahnung, was das
Tranergewand ursprünglich gewesen; daß es nämlich ursprünglich eine Vermummung war,
um sich vor dem Geist des Verstorbenen zu schützen und sich ihm unkenntlich zu machen; wie
denn überhaupt die ganze Flut religiöser Vorstellungen vom Totemismus bis zum Manitu-
kult unverstanden und unberücksichtigt bleibt, als ob die Menschheit von jeher aus deichbauenden
Friesenleuten bestanden hätte. Auf das posthume Werk, die „Vorgeschichte der Indoeuropäer“
(1894), aus dem sich die ganze Plattheit des Standpunktes ergibt, gehe ich nicht ein, aus
Schonung für den Verfasser, der das Buch selbst nicht mehr herausgegeben hat.
In der Tat, wenn man Hegels Rechtsphilosophie gelesen hat und herabsteigt zu den
dürftigen Erzeugnissen eines Ahrens, Krause und Röder, so bekommt man das
Gefühl, das einen beschleicht, wenn man einen vornehmen Palast der Rokokozeit verläßt, in
dem die Reichtümer von Jahrhunderten aufgehäuft sind: allerdings die Möbel etwas fremd-
artig, manches altmodisch und verschossen, im großen ganzen aber behaglich, reich und an-
heimelnd; und wenn man sodann zu einer schlichten Bürgerfamilie kommt, wo die Hausfrau
ohn' Ende die geschäftigen Hände regt und alles sich höchst anständig nach der Decke streckt. Geht
man aber gar über zu Jherings „Zweck im Recht“, so hat man das Gefühl einer Armen-
leutestube, der Boden mit Sand bestreut, die Fensterchen mit den dürftigsten Vorhängen ver-
sehen, soweit es die Genierlichkeit verlangt, und alles zusammengepaßt nach dem Nützlichen:
die Kleider gewendet und die Trachten in einem Schnitt, der zeigt, daß man jede Viertelelle
Tuch ängstlich zu sparen hat; Teppiche natürlich sind längst abgeschafft, denn sie taugen zu nichts
und können höchstens den Lungen schaden. Ein so trostloses Ergebnis zeigt uns die Zeit nach
Hegel; es ist, wie wenn aller Reichtum der Ideen, den die Geister vom 10. Jahrhundert an auf-
gehäuft, alle Jdeen eines Abälard, eines Thomas, eines Spinoza uns durch einen schweren
Zauber entrissen und höchste Dürftigkeit und Not übrig geblieben wären 7.
Doch hierbei konnte es nicht bleiben; das philosophische Denken war erwacht, und der
Rechtsphilosophie mußte ein neuer Tag erscheinen.
Auf Grund der früheren Philosophielehren bauend, mit selbständiger Kritik und scharfer
Scheidung hat Berolzheimer gearbeitet und in seinem großen Werke „System der Rechts-
1 Treffend bemerkt Haas, Über den Einfluß der epikureischen Staats= und Rechtsphilo-
sophie auf die Philosophie des 16. und 17. Jahrh. S. 114: „Nun ist es aber die hervorspringendste
Eigentümlichkeit der Menschen niedriger Kulturstufe, daß ihre sozialen Gefühle der Primitivhorde
gegenüber von so außerordentlicher Stärke sind, daß der Gedanke an persönlichen Vorteil Har nicht
bei ihnen entsteht.“ Richtig: daran muß jede epikureische Moralanschauung scheitern. Über das
Alter der altruistischen Triebe vgl. auch Stern, Krit. Grundlegung der Ethik S. 313 f. und die
Allgemeinen Grundlagen der Ethik S. 8f.
Dieses Urteil über JIherings Rechtsphilosophie ist viel gescholten, aber nirgends wider-
legt worden. Im Ergebnis kommt zu dem gleichen Urteil Gierke, Savignyzeitschrift Germ.
Abt. XXXII S. 356. Auf das Schelten lege ich keinen Wert: es trifft nur den Scheltenden; die
Widerlegung kann ich abwarten. Jedenfalls, wenn man nichts Besseres zu geben hat als Lands-
berg, so steht die Widerlesung noch in weitem Felde. Gegen Ihering auch Meltzl, Das
Recht als Verpflichtung (1911) S. 88.