Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 171 
(1586—1638) und Benedikt Carpzov (1595—1666) hohes Ansehen und führende Stellung. 
Das Strafensystem rückte von dem der Carolina allmählich ab durch Ausbildung von Arbeits- 
strafen zu öffentlichen Zwecken und durch die Einrichtung von Zuchthäusern und Arbeits- 
häusern. Im 18. Jahrhundert wurde Carpzovs Einfluß gebrochen, und zog die naturrechtliche 
Schule das Strafrecht in den Kreis ihrer Reformbestrebungen hinein. Unter dem Eindrucke 
der Schrift des Italieners Beccaria Dei delitti e delle pene (1764) setzten sich die Literatur und 
die Landesgesetzgebung eine dem Geiste der Humanität und der Aufklärung entsprechende 
Milderung des Strafrechts zum Ziele. Mehr als ein anderer Rechtszweig hat dieses der rechts- 
philosophischen Abstraktion zu verdanken, die sich namentlich in den Theorien über den Straf- 
zweck, in den sogenannten Strafrechtstheorien, zur Geltung brachte. 
Das gemeine deutsche Strafrecht wurde im größten Teile Deutschlands durch die kodifi- 
zierende Landesgesetzgebung ausgeschlossen. Der damit aufwuchernde Partikularismus machte 
aber schließlich einer unifizierenden Entwicklung Platz, dank dem Ansehen und dem Herrschafts- 
gebiete, die das preußische Strafgesetzbuch vom 14. April 1851 gewann. Nach dessen Vorbild 
wurde das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 31. Mai 1870 ausgearbeitet, das 
jetzt als Reichsstrafgesetzbuch in einer Redaktion vom 26. Februar 1876 in Geltung ist. Eine 
Revision des Gesetzbuchs ist im Zuge. 
IV. Das Gerichtsverfahren. 
§ 73. Der Strafprozeß. Auf dem Gebiete des Prozeßrechtes wurde, nicht ohne 
Beibehaltung deutschrechtlicher Grundsätze, das Verfahren rezipiert, welches auf Grundlage 
des römischen und kanonischen Rechtes die italienische Praxis ausgebildet hatte. Die deutsch- 
rechtliche Scheidung zwischen Richter und Urteilfindern fiel hinweg, als die Rechtskenntnis 
Monopol der gelehrten Juristen wurde. Das Urteil fällte nunmehr der Richter selbst oder ein 
richterliches Kollegium. An Stelle des mündlichen und öffentlichen Verfahrens trat ein schrift- 
liches und geheimes. Das formale Beweisverfahren des deutschen Rechts war von vornherein 
dem Untergange geweiht, da es nicht gelang, eine der vorhandenen Beweisformen zum Rahmen 
eines materiellen Beweisrechtes umzubilden, wie dies in England durch Umbildung des In- 
quisitionsbeweises zur Jury geschah. Doch vermochte man nicht vollständig mit den alten 
Grundsätzen zu brechen. Die deutschrechtliche Auffassung von der Gebundenheit des richter- 
lichen Ermessens kam bezüglich des Beweisergebnisses in den gesetzlichen Beweistheorien aufs 
neue zum Ausdruck. 
Im Strafprozeß wurde das im kanonischen Rechte ausgebildete Inquisitionsprinzip zur 
Durchführung gebracht. Da man auf ein bloßes Zusammentreffen der Umstände hin nicht 
zu verurteilen wagte, arbeitete man auf ein Geständnis des Inkulpaten hin (confessio est 
regina probationum). Um ein Geständnis herbeizuführen, wendete man die Tortur an. 
Während die Carolina neben dem amtlichen Inquisitionsprozeß noch ein durch Anklage ein- 
geleitetes Strafverfahren, den Akkusationsprozeß, als gleichberechtigt anerkannte und in dem 
sogenannten endlichen Rechtstag ein öffentliches und mündliches Schlußverfahren bewahrte, 
gelangte in der Praxis der Inquisitionsprozeß zur ausschließlichen Herrschaft, und wurde mit 
dem endlichen Rechtstag, den man als überflüssig fallen ließ, das letzte Stück von Offentlich- 
keit und Mündlichkeit ausgemerzt. Die in der Carolina innerhalb gewisser Schranken zugelassene 
und vorgeschriebene Folterung des Angeschuldigten wurde nach dem Vorgange Friedrichs des 
Großen, der sie, mit Vorbehalt weniger Ausnahmefälle, in der Kabinettsorder vom 3. Juni 
1740 verbot, durch die Landesgesetzgebung allenthalben beseitigt. 
In der Zeit der französischen Vorherrschaft gelangte in einem Teile Deutschlands das 
französische Strafprozeßrecht mit Offentlichkeit und Mündlichkeit, Staatsanwaltschaft und 
Geschworenen zur Geltung. Damit begann der Kampf zwischen dem französischen Vorbild 
und dem auf das italienische Recht zurückgehenden Inquisitionsprozeß. Die deutsche Landes- 
gesetzgebung suchte diesen zunächst unter Festhaltung seiner Grundlagen zu reformieren. Allein 
unter dem Druck der Bewegung des Jahres 1848 wurde in den meisten deutschen Staaten die 
Institution der Schwurgerichte, die den eigentlichen Mittelpunkt des Streites gebildet hatte, 
und zwar nach französischem Muster, rezipiert. Damit war der Sieg der französischen Form
	        
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