172 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
des Strafverfahrens in der Hauptsache entschieden. Der gemeine Inquisitionsprozeß erhielt
sich nur noch in den beiden Mecklenburg und in den beiden Lippe. In einzelnen Staaten, so
in Hannover (1850), in Oldenburg, Kurhessen, Bremen, Baden, in den preußischen Erwerbungen
von 1866, in Württemberg und in Sachsen, wurde, und zwar in der Regel für Strafsachen
unterster Ordnung, die Einrichtung der Schöffengerichte aufgenommen.
Zur Einheit des Strafprozeßrechtes gelangte das Deutsche Reich durch die Reichsstraf-
prozeßordnung vom 1. Februar 1877, nach welcher die Strafsachen unterster Ordnung den
Schöffengerichten, die Strafsachen mittlerer Ordnung den Kammern der Landgerichte, die
Strafsachen höchster Ordnung den Schwurgerichten (bzw. dem Reichsgerichte) zugewiesen sind.
§ 74. Der Zivilprozeß. Für die Entwicklung des Zivilprozeßrechtes sind in der Zeit der
Rezeption zwei Rechtsgebiete zu unterscheiden, das Gebiet des älteren Reichsprozesses, d. h.
des Verfahrens, wie es sich am Reichskammergerichte ausbildete, und das Gebiet des sächsischen
Prozesses.
Das kammergerichtliche Verfahren gestaltete sich zwar nicht sofort als ein schriftliches.
Den Parteien war es ursprünglich nicht auferlegt, sondern nur gestattet, wenn sie wollten, ihre
Sachen in Schriften vorzubringen. Aber schon 1507 wurde dies ihren Vertretern zur Pflicht
gemacht. Hatte der Kläger seine Klage schriftlich überreicht, so wurde der Beklagte behufs Mit-
teilung der Klage zu einem Termin vorgeladen, in welchem er Abschrift der Klage und die Ge-
stattung eines neuen Termines erbitten konnte. Nach der „Kriegsbefestigung" (Litiskontestation),
welche die Absicht der beiden Parteien feststellte, in den Prozeß einzutreten, und den Beklagten
verpflichtete, die Klage zu verantworten, mußten beide Teile den Gefährdeeid, das juramen-
tum calumniae, schwören. Dann erst erfolgte die Aufstellung der Klagetatsachen und der
etwaigen Einredetatsachen. Kläger und Beklagter hatten die sogenannten Positionen oder
Artikel zu übergeben; sie mußten nämlich zur Vorbereitung des Beweisverfahrens die Be-
hauptungen, die der Klage bzw. der Einrede zugrunde lagen, in einzelne Artikel auflösen, über
die der Gegner bei seinem Gefährdeeid sich zu erklären hatte, ob er sie zugestehe oder nicht.
Sache der Parteien war es dann, ohne daß ein Beweisurteil erging, von ihren Behauptungen
diejenigen zu beweisen, die der Gegner nicht ausdrücklich zugestand oder wegen Ungehorsams
als zugestehend erachtet wurde. Im Beweisverfahren kam der von Beweisführer (Probanten)
dem Gegner zugeschobene und referible Haupteid (iuramentum delatum und relatum) zur
Anwendung. Auch konnte der Richter zur Ergänzung eines unvollständigen Beweises einen
Erfüllungseid, iuramentum suppletorium, oder zur Entkräftung vorhandener Indizien einen
Reinigungseid, iuramentum purgatorium, auferlegen. Handelte es sich um einen Zeugen-
beweis, so leisteten die Zeugen zunächst ein eidliches Wahrheitsversprechen, um daraufhin vom
Richter in Abwesenheit der Parteien nach Artikeln und Fragestücken vernommen zu werden.
Nach Erschöpfung der Verhandlung beschlossen die Parteien, daß sie „nichts Neues mögen für-
bringen oder beweisen“, wofür der Richter einen besonderen Termin (ad producendum omnia
et concludendum) setzen mochte. Als Zwangsmittel gegen den Ungehorsam des Beklagten,
der die Einlassung verweigerte oder nicht vor Gericht erschien, dienten die Einsetzung des Klägers
in die Güter des Beklagten (Einsatz, missio in bona) und die Acht. Doch stellte schon der ältere
Reichsprozeß dem Kläger daneben den Beweis der Klage zur Wahl.
Das ganze Verfahren, dem jede Gliederung und jeder Ruhepunkt, insbesondere ein
zwingender Abschluß der Parteihandlungen, fehlte, war außerordentlich schwerfällig und weit-
läufig und hielt der Prozeßschikane Türen und Tore offen, so daß es zu gerechten Beschwerden
Anlaß ergab.
Im sächsischen Prozeß haben sich neben den durch die italienische Rechtswissenschaft ver-
mittelten Grundlagen Prozeßinstitute des heimischen Rechtes triebkräftig erhalten. Der säch-
sische Prozeß verschmähte das artikulierte Verfahren, bildete ein generelles, der Rechtskraft fähiges
Beweisurteil aus, kraft dessen der Kläger den Grund der Klage, der Beklagte den der Einrede
beweisen sollte, und ging im Falle des Ungehorsams endgültig mit der Verurteilung des Be-
klagten vor.
Die „Schärfe“ des sächsischen Verfahrens wirkte als Vorbild auf die Reichsgesetzgebung
ein, als diese zur dringend nötig gewordenen Reform des Reichsprozesses schritt. Um den