Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 179 
Rechts zu messen. Insoweit lehrte sie kein unmittelbar anwendbares Recht, befruchtete aber 
das Verständnis und die Handhabung der Partikularrechte mit Einschluß der großen Gesetz- 
bücher. . 
Seitdem der Norddeutsche Bund und das Deutsche Reich wieder ein formell gemeines 
Gesetzesrecht erzeugten, das erheblich auch in das Privatrecht eingriff, erweiterte das deutsche 
Privatrecht seine Aufgabe, indem es auch das Reichsprivatrecht deutscher Herkunft in den 
Kreis seiner Darstellung zog. 
Mit dem Inkrafttreten des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 hat 
sich die Bedeutung des deutschen Privatrechts stark verschoben. Seine alten Aufgaben sind, 
soweit sie nicht die Rechtsgeschichte übernommen hat, zum größten Teil erledigt. Gemeines 
Recht im älteren Sinne besteht nur noch als Landesrecht auf vorbehaltenen Rechtsgebieten. 
Nur im geringem Umfange daher, wenn auch in größerem Umfange als gemeines römisches 
Privatrecht, ist das gemeine deutsche Privatrecht im älteren Sinne Gegen- 
stand der dogmatischen Jurisprudenz geblieben. Die Partikularrechte sind im Zentrum des 
Privatrechts dem neuen, einheitlichen Recht gewichen. Nur in den besonderen Materien daher, 
die der Landesgesetzgebung überlassen sind, hat das deutsche Privatrecht noch der inneren 
Einheit der Partikularrechte nachzugehen. Immerhin hat es in dieser Richtung, 
da gerade die Sonderrechtsbildungen fast ausschließlich nationale Prägung zeigen, auch heute 
eine sehr umfassende und wichtige Aufgabe zu lösen. Was schließlich das Reichsprivat- 
recht betrifft, so kann das deutsche Privatrecht sich nicht mehr das Ziel setzen, das neue ge- 
meine Recht deutscher Herkunft vollständig darzustellen. Denn das endlich errungene einheit- 
liche Recht soll nicht wieder in seine römischen und germanischen Bestandteile zerlegt, sondern 
einheitlich begriffen und dargestellt werden. Wohl aber liegt dem deutschen Privatrecht nun- 
mehr die bescheidenere, jedoch höchst bedeutungsvolle Aufgabe ob, die germanischen Grundbestand- 
teile unseres bürgerlichen Rechts aufzuzeigen, sie auf ihre geschichtlichen Grundlagen zurück- 
zuführen und die in ihnen lebendigen nationalen Rechtsgedanken zu entfalten. Eine solche 
germanistische Grundlegung ist neben der romanistischen Grundlegung unentbehrlich, wenn 
das geltende bürgerliche Recht wirklich verstanden, sein reicher deutschrechtlicher Gehalt un- 
verkümmert in das Leben eingeführt und ein Verwachsen mit dem deutschen Volksgeist ge- 
sichert werden soll. 
§ 2. Eigenart des deutschen Privatrechts. Das deutsche Privatrecht hatte zwar schon 
eine lange Entwicklung hinter sich, trug aber noch die Züge eines jugendlichen Rechts, als die 
Aufnahme der fremden Rechte seine organische Weiterbildung unterbrach. Der Fortschritt 
zur Reife des modernen Rechts, obschon vielfach im späteren Mittelalter angebahnt, wurde 
nicht ohne Hilfe des fremden Rechts vollzogen. Aber die im Geiste des deutschen Volkes be- 
gründete Eigenart des deutschen Rechts wirkte fort, durchdrang die neuen Formen und über- 
wand in demselben Maße, in dem unser Recht wieder nationaler wurde, das Fremdartige im 
rezipierten fremden Recht. 
Im Gegensatz zum römischen Recht, an dessen Eingangspforte die scharfe Sonderung 
von jus publicum und ius privatum steht, hatte unser mittelalterliches Recht die begriffliche 
Scheidung von öffentlichem und Privatrecht noch nicht vollzogen. Wie es kein 
reines öffentliches Recht gab, sondern das öffentliche Recht privatrechtliche Formen annahm 
und zuletzt die öffentliche Gewalt in Vermögensrechte eingebettet wurde, so gab es kein reines 
Privatrecht, sondern alles Privatrecht blieb durch öffentlichrechtliche Beziehungen gebunden. 
Diese Einartigkeit alles Rechts bewirkte, daß einerseits auch das öffentliche Recht durch und durch 
gegenseitig, andererseits auch das Privatrecht durch und durch sozial war. Aber der Kauf- 
preis dafür war die Unfreiheit des Staates und die Unfreiheit des Individuums. Erst die mit 
Hilfe des römischen Rechts unendlich mühsam durchgesetzte Scheidung von öffentlichem und 
Privatrecht ermöglichte die Erhebung des Staates zum souveränen Gemeinwesen und die 
Anerkennung des Individuums als eines in sich beruhenden Einzelwesens. Aber wenn eine 
Zeitlang darüber der große germanische Gedanke der Einheit alles Rechts bei uns (im Gegen- 
satz zu England) verloren gehen und im öffentlichen Recht der Staatsabsolutismus, im Privat- 
recht der Individualismus zu triumphieren drohte, so ist mit der Wiedergeburt des nationalen 
12“
	        
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