Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 181 
das Rechtsleben unterwarf, hatte keine Fühlung mit der im zurückgedrängten Volksrecht schlum- 
mernden Gedankenwelt. Er schöpfte seine geistigen Mittel ausschließlich aus der auf Grund 
der fremden Quellen aufgebauten Theorie und zwängte auch den einheimischen Rechtsstoff, 
soweit er ihn dulden mußte, in die romanistische (oder romanistisch-kanonistische) Begriffs- 
schablone. So empfingen die deutschen Rechtsinstitute meist eine ihr Wesen vergewaltigende 
fremdartige Einkleidung. Erst in langem Ringen hat die germanistische Wissenschaft dem natio- 
nalen Stoffe die ihm immanenten Gedanken entlockt und die gewonnenen selbständigen deutsch- 
rechtlichen Begriffe für das moderne Recht verwertet. Doch erfolgten immer wieder Rück- 
schläge; die Alleinberechtigung der vom römischen Recht abstrahierten Begriffe wurde nicht 
nur von den Pandektisten verfochten, sondern auch innerhalb des deutschen Privatrechts selbst 
von einer romanisierenden Richtung nach Möglichkeit festgehalten. Demgegenüber hat das 
deutsche Privatrecht Befugnis und Pflicht, die eigenartigen nationalen Rechtsgedanken selb- 
ständig zu entfalten und in die Dogmatik des geltenden Rechts einzuführen. Daß unser ge- 
samtes juristisches Denken am römischen Recht geschult ist, daß wir den Römern unverlierbare 
Errungenschaften in der Methode, im System und in manchen Begriffskategorien verdanken, 
dürfen wir freilich niemals vergessen. Auch müssen wir da, wo die frühere Befangenheit positiv- 
rechtliche Niederschläge hinterlassen hat, wie z. B. beim Familienfideikommiß, das positive Recht 
achten. Im übrigen aber müssen wir jedes Rechtsinstitut aus sich heraus begreifen, das deutsche 
aus deutschem, das moderne aus modernem Geist. Denn wir haben die Begriffe dem Leben 
abzulauschen, nicht die Wirklichkeit mit zu eng gewordenen Schulbegriffen zu meistern. Hierin 
liegt auch gegenüber dem BGB. eine Hauptaufgabe der germanistischen Jurisprudenz. 
§s 3. Quellen des deutschen Privatrechts. 
I. Mittelalterliche. Die mittelalterlichen deutschen Rechtsquellen sind für uns 
die Erkenntnisquellen des reinen deutschen Rechts. Aus den Quellen der fränkischen Zeit 
erschließen wir dessen ältere Gestalt, aus den Quellen des deutschen Mittelalters das klassische 
deutsche Recht. Die meisten von ihnen haben schon seit langer Zeit ihre Geltung eingebüßt. 
Eine Ausnahme machten einzelne Land-, Stadt--, Orts= und Satzungerechte; insbesondere 
aber der Sachsenspiegel nebst Glosse und Sächsischem Weichbild, denen in den Ländern des 
gemeinen Sachsenrechts (im Königreich Sachsen bis 1865, in den sächsisch-thüringischen Klein- 
staaten bis zum BGB.) gesetzliches Ansehen zugeschrieben wurde. 
II. Von der Rezeption bis zur Gründung des neuen Reichs. Die 
Rechtsquellen dieses Zeitraums zeigen uns die Verschmelzung des einheimischen und des fremden 
Rechts. Viele von ihnen waren schon vor dem BGB. antiquiert; die übrigen enthalten das 
bis zur neuesten Umwälzung geltende Recht, sind aber durch das BG#B. insoweit außer Kraft 
gesetzt, als sie nicht dem Landesrecht vorbehaltene Materien betreffen, und zum Teil auch in 
diesen Materien durch neuestes Landesrecht ersetzt. 
1. Gemeindeutsche Quellen waren neben der gemeinen Gewohnheit die 
älteren deutschen Reichsgesetze, deren freilich nur spärliche privatrechtliche Bestimmungen auch 
nach der Auflösung des Reichs ein Bestandteil des gemeinen Rechts im älteren Sinne blieben 
(nicht beseitigt durch Art. 2 der Rheinbundsakte vom 12. Juli 1806). Kein formell gemeines Recht, 
wohl aber ein allgemeines deutsches Recht brachte her Deutsche Bund durch Bundesbeschlüsse 
zustande, durch die die einzelnen Staaten zu übereinstimmender Gesetzgebung verpflichtet 
werden konnten. Die deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815, die Wiener Schlußakte vom 15. Mai 
1820 und einige Bundesbeschlüsse enthalten privatrechtliche Bestimmungen. 
2. Partikularrechte. Sie zerfallen in drei Gruppen: 
a) Kodifikationen mit Anerkennung des gemeinen Rechts. Seit 
dem Ende des 15. Jahrhunderts wurden in Städten und Ländern Gesetzbücher erlassen, die aber 
nur das partikuläre Recht kodifizierten und daher das gemeine Recht als Hilfsrecht bestehen 
ließen. 
Den Anfang machten neue Stadtrechte, in denen das mittelalterliche Recht einer 
Revision unterzogen wurde. Nachdem zuerst die Nürnberger Reformation von 1479 das 
einheimische Recht mit römischem Recht durchsetzt hatte, ergingen mehrfach noch stärker romani-
	        
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