Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 15 
wir vollkommen auf dem richtigen Wege, ebenso wie etwa der Paläontologe nicht bei der heutigen 
Erdbildung stehen bleibt, sondern auf frühere Zeiten zurückgreift und darlegt, wie aus dem 
Einfachen das Entwickeltere, aus dem Schwachen das Mächtige, aus dem Unvollkommenen 
das Vollkommnere entstanden ist. Wir betrachten eben das Recht nicht als die Widerspiegelung 
einer außerhalb des Menschen stehenden Erscheinung, die etwa bei den Naturvölkern getrübt, 
bei uns in leuchtender Form widerstrahlte, sondern wir betrachten das Recht als ein mensch- 
liches Erzeugnis, das in jedem Stadium, wo es sich uns zeigt, Interesse bietet, weil es uns den 
Menschen und die Entwicklung der Menschheit darlegt. Das Studium des Rechts ist ein Studium 
des Menschen, ein Studium einer der verschiedenen Schöpfungen des Menschengeistes, welche 
wir durch die verschiedenen Entwicklungsstufen hindurch zu verfolgen haben 1. 
§ 9. Rechtsphilosophie und Rechtspolitik. 
Die Rechtsphilosophie ist nicht identisch mit der Rechtspolitik; diese hat die Auf- 
gabe, darzulegen, welche Gestaltung des Rechts in der jeweiligen Kulturperiode die beste ist; 
sie ist das Erzeugnis einer Zeit, die aus der naiven, unbewußten Entwicklungssphäre heraus 
zur bewußten, gesetzgeberischen Gestaltung des Rechts hinübergelangt ist, vo wir uns dem 
Rechte gegenüber nicht mehr bloß beschaulich und forschend verhalten, sondern selbsttätig an 
seiner Fortbildung mitarbeiten. Allerdings ist auch die Rechtspolitik vollkommen begründet; 
sie ergibt sich aus dem Obigen von selbst. Ist das Recht der verschiedenen Völker auch kein ein- 
heitliches, wandelt es sich mit Zeit und Lebensverhältnissen, so muß doch das Recht einer be- 
stimmten Periode jeweils einer bestimmten Richtung zusteuern und bestimmte Anordnungen treffen, 
um die Kulturaufgabe bestens zu lösen; das Recht, welches die Schwierigkeiten am besten be- 
wältigt, ist das meistwertige; die Rechtspolitik ist daher eine Wertschätzerin, und ihre 
Aufgabe besteht in Werturteilen. Hier nun das Richtige zu erfassen, hier zu erspähen, 
was insbesondere die etwa widerstreitenden Interessen am besten versöhnt und dem vollwertigen 
Interesse am wenigsten Abbruch tut, ist Aufgabe der Rechtspolitik. Sie ist auf diese Weise ein 
ausgezeichnetes Förderungsmittel, namentlich für den Gesetzgeber. Je nachdem wir den Ver- 
kehr steigern wollen oder nicht, werden wir den formlosen Vertrag annehmen oder ausschließen; 
wir werden die Wechselfähigkeit beschränken oder erweitern; wir werden die Eheschließung 
freigeben oder an Bedingungen knüpfen; wir werden das Grundeigentum zu befreien oder 
zu knechten suchen; wir werden entweder die Wertrechte, namentlich die Hypotheken, dem Grund- 
eigentum entgegentreten lassen und auf solche Weise das Feste und Unbewegliche zu beweg- 
lichen Werten zerstäuben, oder wir halten dies für einen Fehler und wehren den Tatendrang 
der mobilisierenden Rechte ab; wir werden das Erbrecht freigeben, die einzelnen Erben ein- 
ander gleichstellen, oder wir werden die Verfügung beschränken und Vorrechte bestimmen. Der 
Jurist wird hier zum bewußten Mitarbeiter an der Weltidee und Weltgeschichte. 
Ganz besonders wird uns hierbei die Kraft der rechtlichen Phantasie behilflich sein; denn 
sie gestattet uns das Experiment: sie gestattet uns, eine Menge neuer Fälle zu ersinnen, wo 
der Rechtssatz zur Anwendung gelangt, und derartige hervorstechende Fälle werden am besten 
zeigen, ob wir uns auf dem richtigen oder auf einem Irrwege befinden. 
Dabei ist noch eines hervorzuheben. Die Rechtspolitik hat sich durchaus nicht damit zu 
begnügen, etwa das festzustellen, was das Volksbewußtsein will; denn die Rechtspolitik ist fort- 
schreitend, das Bolksbewußtsein meist ultrakonservativ: es lebt in seinen Vorstellungen und 
läßt sich schwer davon abbringen. Darum sind es oft wenige hervorragende Geister, die auf 
solche Weise rechtspolitisch zur Förderung des Ganzen arbeiten. So ist z. B. die Überwindung 
der Hexenprozesse und der Folter nur unter höchstem Widerstand derjenigen Volkskreise ge- 
schehen, welche damals im Allgemeinbewußtsein den Ausschlag gaben, und ebenso hat noch 
heutzutage die Uberwindung des Zweikampfes mit veralterten Anschauungen zu ringen. 
1 E italienische und sponische, Nechtsphilosophen vgl. Lehrb. der Rechtsphil. S. 214, auch 
Filomusi Guelfi, della filosofia del diritto in Italia dalla fine del sec. XVIII alla tine del 
sec. XIX (1911); auch in Ungarn wird die Rechtsphilosophie eifrig gepflegt, vgl. die Aufführungen 
im Arch. f. Rechtsphil. I S. 315, III S. 48
	        
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