186 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
Kapitel II. Die Rechtssätze.
§ 6. Das Werden der Rechtssütze. Das Recht im objektiven Sinne als Inbegriff äußerer
Normen für menschliches Wollen kommt in Rechtssätzen zur Erscheinung, die sich in geordneten
Zusammenhängen zu Rechtsinstituten und zuletzt zum Ganzen der Rechtsordnung verbinden.
Die Rechtssätze wandeln sich; sie werden durch menschliche Tat im Wege der „Rechtserzeugung“
geschaffen, umgeschaffen und abgeschafft. Alle Rechtserzeugung ist Gemeinschaftstat; die mit-
wirkenden Einzelnen handeln als Glieder oder Organe der Gemeinschaft. Der Vorgang der
Rechtserzeugung fordert eine innere und äußere Betätigung des Gemeinlebens: Rechtsbildung
und Rechtsausspruch. Je nachdem das Recht durch die kraft der Lebensordnung einer organi-
sierten Gemeinschaft dazu berufenen Organe bewußt festgestellt und ausdrücklich erklärt wird
oder unmittelbar aus unorganisiertem Gemeinleben durch Bildung und Außerung einer Ge-
meinüberzeugung entspringt, unterscheidet man gesetztes und ungesetztes Recht. Die Recht-
setzung erfolgt entweder durch den Staat, der als Träger höchster Macht sich selbst seinen
Wirkungsbereich abgrenzt, oder durch einen ihm untergeordneten Verband. Hiernach unter-
scheidet man Gesetz und Satzung. Ungesetztes Recht wird entweder durch die Gemeinschaft
der Rechtsgenossen selbst oder durch einen besonderen Berufsstand für die Gemeinschaft her-
vorgebracht. Hiernach unterscheidet man eigentliches Gewohnheitsrecht und Juristenrecht.
Die zur Rechtserzeugung kompetenten Wirkungskräfte nennt man Rechtsquellen. Im Laufe
der Zeit hat sich das Verhältnis der verschiedenen Arten von Rechtsquellen zueinander ver-
schoben. Das ursprüngliche Ubergewicht des Gewohnheitsrechtes ist der Vormacht des ge-
setzten Rechts gewichen, die Satzung ist durch das Gesetz, das Volksrecht durch das Juristenrecht
zurückgedrängt.
§ 7. Gesetzesrecht. Da sowohl das Reich wie seine Gliedstaaten Staaten sind, gibt
es heute in Deutschland, wie schon zu Zeiten des alten Reichs, eine doppelte Art von Gesetzes-
recht: Reichs- und Landezsgesetz.
Mit dem materiellen Begriff des Gesetzesrechts als des staatlich gesetzten Rechts kreuzt
sich der formelle Begriff des Gesetzesrechts als einer durch die obersten Organe des
Staats (die „gesetzgebende Gewalt“) in bestimmter Form („dem Wege der Gesetzgebung")
bewirkten Erklärung. Es gibt formelle Gesetze, die keine Rechtssätze enthalten. Anderseits
fließt Gesetzesrecht im materiellen Sinn auch aus gewissen als „Verordnungen“ bezeichneten
Erklärungen anderer, allgemein oder speziell dazu ermächtigter Staatsorgane. Man nennt
Verordnungen, die objektives Recht setzen, „Rechtsverordnungen“ und unterscheidet sie von
bloßen „Verwaltungsverordnungen“.
ÜUber das Zustandekommen von Gesetzesrecht entscheidet das Staatsrecht. Er-
forderlich ist erstens gehörige Gesetzesbildung durch die verfassungsmäßig berufenen, bei formellen
Gesetzen und bei Rechtsverordnungen ungleich bestimmten Staatsorgane. Erforderlich ist
aber zweitens gehöriger Gesetzesausspruch durch das hierzu berufene, bei formellen Gesetzen
von dem Gesetzesbildungsorgan verschiedene Organ. Die Form der Verkündigung war im
älteren deutschen Recht mündlicher Vortrag (in der Versammlung, von Gerichtsstühlen, Kanzeln
und Rathäusern). Doch gewann daneben die schriftliche Verbreitung und seit Erfindung der
Buchdruckerkunst die Verbreitung durch den Druck wachsende Bedeutung. Endlich wurde der
Druck in bestimmten amtlichen Blättern zur allgemein wirksamen Verkündigungsform erhoben
(so 1807 in Württemberg, 1810 in Preußen). Dies gilt heute allgemein für formelle Reichs-
und Landesgesetze.
Den Zeitpunkt seines Inkrafttretens kann das Gesetz sich selbst bestimmen. In
Ermangelung einer solchen Bestimmung gelten feste gesetzliche Fristen. Reichsgesetze und
preußische Landesgesetze treten am vierzehnten Tage nach Ablauf des Tages, an dem das sie
enthaltende Blatt der Gesetzsammlung ausgegeben ist, in Kraft. Vom Augenblick seines In-
krafttretens an gilt das Gesetz für alle Gesetzesunterworfenen ohne Rücksicht auf unverschuldete
Unkenntnis.
Die Anwendung der Gesetze erfolgt durch die Gerichte von Amts wegen. Die Ge-
richte sind aber befugt und verpflichtet, selbständig zu prüfen, ob das Gesetz in gültiger Weise
zustande gekommen ist und somit nicht bloß der Schein eines Gesetzes vorliegt. Die Prüfung