Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

188 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
gegenüber dem fremden Recht. Auch nach der Auflösung des alten Reichs blieb nicht nur die 
Autonomie der nunmehr zur Souveränität emporgestiegenen Häuser unerschüttert, sondern 
wurde auch den „mediatisierten“ (d. h. fremder Landeshoheit unterworfenen) ehemals reichs- 
ständischen Häusern durch die deutsche Bundesakte (a. 14) der Fortbestand ihrer bisherigen 
Autonomie gewährleistet. Mit der Auflösung des Bundes fiel die Bundesgarantie weg. Die 
Autonomie aber blieb landesrechtlich anerkannt. Dem neuen bürgerlichen Recht gegenüber 
ist reichsrechtlich den „Hausverfassungen“ der landesherrlichen Familien ein unbedingter Vor- 
rang eingeräumt, den Hausverfassungen der standesherrlichen Familien in Ansehung ihrer 
Familienverhältnisse und ihrer Güter die ihnen vom Landesrecht gewährte Kraft vorbehalten 
(EG. a. 57, 58, 1). In beschränktem Umfange haben auch die Familien des ehemaligen 
niederen Reichsadels und einzelne Familien des landsässigen Adels Autonomie behauptet 
(EG. a. 58, 2). 
Das Zustandekommen der Satzung fordert zunächst gehörige Satzungsbildung 
durch das verfassungsmäßig berufene Satzungsorgan, entweder Versammlungsbeschluß (bei 
Hausgesetzen regelmäßig einstimmigen Beschluß aller volljährigen Agnaten) oder Beschluß 
von Vertretungsorganen (bei Ortsstatuten Gemeindebeschluß) oder Entschluß eines Hauptes 
(z. B. im Bereiche der Verordnungsgewalt des Familienhauptes). Ferner gehörigen Satzungs- 
ausspruch (oft durch Veröffentlichung in bestimmten Blättern). Endlich aber vielfach staat- 
liche Bestätigung. Sie macht die Satzung keineswegs zum Gesetz, setzt sie vielmehr als Satzung 
in Kraft, ist daher Verwaltungsakt. Hausgesetze der standesherrlichen Familien sind nach der 
Bundesakte dem Souverän vorzulegen; in manchen Staaten (z. B. Sachsen und Hessen) wird 
nur Vorlegung zur Kenntnisnahme, in anderen (z. B. Preußen, Bayern, Württemberg, Baden) 
Vorlegung zur Genehmigung verlangt. Zu Zeiten des alten Reichs war kaiserliche Genehmi- 
gung üblich, aber nicht erforderlich (RGer. XVIII Nr. 42). 
Die Anwendung der Satzungen hat, weil sie Rechtsnormen sind, von Amts wegen 
zu erfolgen. Die richterliche Prüfung der Gültigkeit ist unbeschränkt. Der Parteibeweis 
spielt dieselbe Rolle wie bei Gewohnheitsrecht und fremdem Recht (Z3PO. § 293). 
Literatur: J. C. Majer, Von der Autonomie usw., 1782; Wilda, Weiskes Rechtslex. 
1 539 ff.; Gerber, Ges. Abh. S. 36 ff. u. 63 ff.; K. Maurer, Krit. Überschau II 229 ff.; 
R. Hermann, De autonomia iuris Germanici privati fonte, 1859; Lewis, Z. f. Gesetzg. u. 
Rechtspfl. in Preußen III 687 ff.; Brunner s. v. „Autonomie“ in Holtzendorffs Rechtslex.: 
Böhlau, Meckl. Landr. 1 356—60; Gierke, D.P.R. 13 19; E. Loening, Die Autonomie 
der standesherrlichen Häuser Deutschlands nach dem Recht der Gegenwart, 1905; Oertmann, 
Die standesherrliche Autonomie im heutigen bürgerlichen Recht, 1905. 
§ 9. Gewohnheitsrecht. Gewohnheitsrecht kann jede organische Gemeinschaft durch 
Ubung in ihrem Gemeinleben erzeugen. Daher das Volk oder ein Volksteil (gemeines oder 
partikuläres Gewohnheitsrecht), aber auch ein Stand (z. B. das gemeine Privatfürstenrecht, 
oder die Handelsgebräuche), eine Religionsgemeinschaft (z. B. das gemeine protestantische 
Eherecht) usw. Das im Kreise einer Körperschaft gebildete Gewohnheitsrecht, das scharf vom 
Satzungsrecht zu scheiden ist, heißt Herkommen oder Obsewanz (z. B. Gemeindeherkommen, 
Familienobservanz). 
Die Geltung des Gewohnheitsrechts war im älteren deutschen Recht unbestritten 
und bedurfte als etwas Selbstverständliches keiner besonderen Rechtfertigung. Das Gewohn- 
heitsrecht herrschte gegenüber dem Gesetzesrecht vor und galt sogar als ehrwürdiger und heiliger. 
Zuerst die mittelalterliche Jurisprudenz zog seiner Geltung Schranken, wobei die romanistische 
Herleitung aus dem tacitus consensus populi (daher Theorie des „statutum tacitum“") und 
die kanonistische Unterstellung unter den Begriff der Verjährung (daher Verlangen einer „1egi- 
tima praescriptio“") wirksam wurden. Mit der Rezeption drang die romanistisch-kanonistische 
Lehre in Deutschland ein, trat aber im Laufe der Zeit dem Gewohnheitsrecht immer feindlicher 
gegenüber. Man erklärte in monarchischen Staaten, da das Volk kein Gesetzgebungsrecht 
habe, die stillschweigende Gutheißung des Monarchen für erforderlich. Mehr und mehr aber 
schrieb man, besonders von naturrechtlicher Seite, dem Gesetzgeber überhaupt ein Rechts- 
erzeugungsmonopol zu. Im gemeinen Recht wahrte trotzdem das Gewohnheitsrecht seine 
dem Gesetzesrecht ebenbürtige Kraft. Die Landesgesetzgebung aber verbot fast allgemein jede
	        
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