2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 189
dem Gesetz widersprechende und seit dem 17. Jahrhundert mehr und mehr auch die ergänzende
Gewohnheit. So auch die großen Gesetzbücher. Im 19. Jahrhundert brachte die historische
Rechtsschule in der Theorie einen völligen Umschwung hervor, indem sie die Ursprünglichkeit
und schöpferische Kraft des Gewohnheitsrechts nachwies und seinen Geltungsgrund in den
Geltungsgrund des Rechts überhaupt zurückverlegte. Freilich ging sie in der Verherrlichung
der unbewußten Rechtserzeugung und der Ablehnung der bewußten Gesetzestat viel zu weit
und rief daher eine Gegenströmung hervor. So folgte denn auch die Gesetzgebung keines-
wegs der neuen Lehre. Auch Entw. I des BB. wollte das Gewohnheitsrecht im wesent-
lichen abschaffen. Zuletzt indes siegte die Meinung, daß hierin eine Uberschreitung der Macht
des Gesetzgebers liege. So unterblieb jede Bestimmung. Die große Frage ist durch Schweigen
gelöst. Dies bedeutet, daß das Gewohnheitsrecht wieder in seine uralte Machtstellung
eintritt. Es hat also an sich gleiche Kraft wie Gesetzesrecht und kann dieses nicht nur er-
gänzen, sondern auch abändern und bindend auslegen (Usualinterpretation). Doch sind dem
partikulären Gewohnheitsrecht gleiche Schranken wie dem partikulären Gesetzesrecht, der
Obserwanz gleiche Schranken wie dem Satzungsrecht gezogen.
Das Zustandekommen des Gewohnheitsrechtes fordert, wie schon im älteren
deutschen Recht erkannt war, zweierlei: Bildung einer Rechtsüberzeugung und Übung. Weder
der innere noch der äußere Vorgang für sich allein reicht, wie von entgegengesetzten Theorien
behauptet wird, zur Hervorbringung eines geltenden Rechtssatzes aus. Die Rechtsüber-
zeugung, die den Rechtssatz bildet, muß sich als Gemeinüberzeugung (nicht Gemeinwille,
nicht Überzeugung aller einzelnen oder ihrer Mehrheit, sondern von den beteiligten Menschen
als etwas Gemeinsames empfundene Uberzeugung) mit rechtlichem Inhalt (opinio juris oder
necessitatis, nicht bloß Vorstellung als Gebot der Sittlichkeit oder Sitte) darstellen. Daß kein
Irrtum zugrunde liegen dürfe, ist eine durchaus unrichtige (lobschon mehrfach vom Reichs-
gericht angenommene) Meinung. Das sogenannte Erfordernis der Rationabilität ist nur in-
sofern anzuerkennen, als ein unvernünftiger oder unsittlicher Inhalt die Annahme einer wahren
Rechtsüberzeugung ausschließt. Die Ubung, die den Rechtssatz zum Ausspruch bringt,
besteht in dessen Betätigung als bindender Norm im Leben. Dazu gehören gleichförmige und
längere Zeit hindurch wiederholte Handlungen (Gewohnheit). Häufigkeit und Dauer ergänzen
einander. Weder eine bestimmte Zahl von Handlungen noch ein bestimmter Zeitraum sind
erforderlich. Doch ist das Erfordernis des Ablaufes der Verjährungszeit in manche Partikular-
rechte aufgenommen.
Die Anwendung des Gewohnheitsrechts hat von Amts wegen stattzufinden. Der
Richter soll es kennen oder erforschen. Die zum großen Schaden des deutschen Rechts früher
herrschende Lehre, daß das Gewohnheitsrecht als etwas Faktisches zu beweisen sei, ist heute
überwunden. Der unterstützende Parteibeweis hat nur wissenschaftlichen Charakter (auch
nach ZPO. § 293). Erkenntnismittel sind Literatur, Präjudizien, Bekundungen von Ge-
richten, anderen Behörden, Körperschaftsorganen und erfahrenen Gemeinschaftsgliedern. Auch
die im Munde des Volkes lebenden Rechtssprichwörter können über die Geltung eines Ge-
wohnheitsrechtssatzes Aufschluß geben.
Literatur: Puchta, Das Gewohnheitsrecht, 2 Bde. 1828/37. G. Beseler, Volksrecht
und Juristenrecht, 1843. F. Dahn, Zeitschr. f. deutsch. Gesetzg. VI 553 ff. Fr. Ab ickes,
Zur Lehre von den Rechtsquellen und insbesondere über das Gewohnheitsrecht, 1872. E. Zite l-
mann,AchfszrXI-V1324ssGRümeltn,JahrbuchfDogmJOHNer
W. Schuppe, Das Gewohnheitsrecht, 1890. S. Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht,
T. I1 (Geschichtliche Grundlegung), 1899. A. Sturm, Revision der gemeinrechtlichen Lehre
vom Gewohnheitsrecht, 1900. Crome, Jahrb. f. Dogm. XXXIX 323 ff. — Graf u. Diet-
herr, Deutsche Rechtssprichwörter, 1864.
§ 10. Juristenrecht. Der Juristenstand hat das Recht praktisch anzuwenden und wissen-
schaftlich zu entwickeln. Beiderlei Tätigkeit ist schöpferisch. Die Praxis hat die abstrakten
Rechtssätze in konkrete Normen für die Einzelfälle umzusetzen. Dies ist, da das Leben immer
reicher ist als die Regel, keine bloß logische Operation, sondern zugleich freie Gestaltgebung.
Die Wissenschaft hat die Rechtssätze in ihrem inneren Zusammenhange darzulegen, sie auf
Prinzipien zurückzuführen und aus ihnen Folgesätze zu entfalten. Auch dies ist geistige Schöp-