190 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
fung. Praxis und Wissenschaft sind durch den positiven Inhalt der Rechtsquellen gebunden,
haben aber, wo dieser zweifelhaft ist, die Zweifel durch selbständige Auslegung zu lösen.
Gegenüber der überfreien Auslegungskunst der gemeinrechtlichen Jurisprudenz, die in das
Gesetz hineinlegte, was sie darin finden wollte oder mußte, und so zur Rechtsunsicherheit führte
(„das Recht hat eine wächserne Nase“), bemühte sich im 18. Jahrhundert die Gesetzgebung, die
Gesetzesauslegung zu beschränken. Den Versuch, die richterliche Auslegung in äußere Fesseln
zu schlagen, mußte man freilich bald wieder aufgeben (Beseitigung der 9§ 47—48 der Einl.
des Preuß. LR. durch KabO. v. 1798). Allein lange blieb die Auslegung der neueren Gesetz-
bücher und Gesetze innerlich unfreier, als gut war. Heute ist die Erkenntnis durchgedrungen,
daß alle Auslegung frei sein muß; daß sie weder am Buchstaben haften noch die als Hilfs-
mittel verwendbaren sogenannten Materialien (Entwürfe, Motive, Beratungsprotokolle, Parla-
mentsverhandlungen usw.) zur bindenden Richtschnur nehmen darf; daß sie vielmehr jede Gesetzes-
bestimmung als lebendiges Stück der Rechtsordnung im Geiste des Ganzen zu deuten und ihr
den immanenten Gedankengehalt, der tiefer und reicher sein kann, als es irgendeinem bei der
Gesetzgebung Beteiligten zum Bewußtsein gekommen war, zu entlocken hat. Im Rahmen
einer derartigen Auslegung bleibt auch die Analogie, die da, wo es für ein Verhältnis an
einem Rechtssatze zu fehlen scheint, durch Anwendung oder Nachbildung der für verwandte
Verhältnisse geltenden Rechtssätze das in der begrifflich lückenlosen Rechtsordnung verborgene
Recht zutage fördert. Die Analogie ist daher nicht, wie viele annehmen, eine besondere
Rechtsquelle.
Die schöpferische Tätigkeit der Praxis bringt zunächst nicht Rechtssätze, sondern
konkrete Normen für Einzelfälle hervor. Den solche Normen rechtzkräftig feststellenden Ent-
scheidungen gebührt für künftige ähnliche Fälle ein freies Ansehen, dessen schon von den mittel-
alterlichen Schöffensprüchen und später von den Fakultäts- und Gerichtssprüchen bewährte
Kraft manche Gesetze (z. B. Preuß. LR. Einl. § 6) vergeblich bekämpften. Niemals aber haben
sie, seitdem die früheren Präjudiziengesetze, die gewissen Entscheidungen hoher Gerichte vor-
läufige Gesetzeskraft beilegten, beseitigt sind, weder für das erkennende Gericht selbst noch für
die ihm im Instanzenzuge untergeordneten Gerichte bindendes Ansehen. Doch kann aus kon-
stanter Praxis, wenn die Erfordernisse der Gewohnheitsrechtsbildung erfüllt sind, ein bindender
Gerichtsgebrauch (usus fori) herworgehen, der die Kraft des Gewohnheitsrechts hat. Auf diesem
Wege ist namentlich im älteren gemeinen Recht das Juristenrecht vielfach zu positivem Recht
geworden.
Die Wissenschaft schafft von sich aus nicht Rechtssätze, sondern Lehrsätze. Sie
haben ein ihrem inneren Wert entsprechendes freies Ansehen; Versuche, ihre Autorität zu
beseitigen (z. B. Cod. Max. Bav. civ. 1, 2 § 14, Preuß. LR. Einl. § 6), hatten keinen oder
aber traurigen Erfolg. Dagegen haben sie niemals bindendes Ansehen. Die ehemals herr-
schende Ansicht, die zum Schaden der Wissenschaft wie der Praxis in der communis opinio
doctorum eine Rechtsquelle sah, ist restlos aufgegeben. Wissenschaftliche Sätze können aber
natürlich durch Gesetz oder Gewohnheit zu Rechtssätzen erhoben werden. Mittelbar geht so
in der Tat ein großer Teil des geltenden Rechts auf die schöpferische Tätigkeit der Wissen-
schaft zurück.
# 11. Die Geltungsbereiche der Rechtssätze. Da jede Rechtsquelle ihren bestimmten
Herrschaftsbereich hat, die Herrschaftsbereiche verschiedener Rechtsquellen aber einander be-
rühren, bildet die Abgrenzung der Geltungsbereiche der Rechtssätze gegeneinander ein be-
sonderes Stück der Rechtsordnung.
1. Weitere und engere Geltungsbereiche. Soweit in demselben Rechts-
gebiet Rechtsquellen von weiterem und engerem Geltungsumfange Kraft haben, gehen die
Rechtssätze aus der engeren Quelle vor. Somit bricht Sonderrecht, solange es überhaupt gilt,
das gemeine bürgerliche Recht. Ebenso hat partikuläres Recht den Vorrang vor gemeinerem
Recht: „Willkür bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemein Recht.“
Allein das gemeine Recht kann sich ausschließliche Geltung beilegen und damit nicht nur das
vorhandene Partikularrecht abschaffen, sondern auch die Neubildung von Partikularrecht ver-
hindern. Im Gegensatz zum älteren gemeinen Recht, das im Zweifel nur subsidiär galt, duldet