2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 191
das neue Reichsrecht ihm widersprechende partikuläre Rechtssätze nur, wo es selbst dies aus-
nahmsweise ausspricht. Am Privatrecht aber hat das Reichsrecht mit der Kodifikation so
vollständig Besitz ergriffen, daß überhaupt die Geltung jedes partikulären Rechtssatzes privat-
rechtlichen Inhalts durch einen ausdrücklichen reichsgesetzlichen Vorbehalt bedingt ist.
2. Räumlicher Geltungsbereich. Zede Rechtsquelle beherrscht ein be-
stimmtes Gebiet und verschafft damit den aus ihr fließenden Rechtssätzen einen räumlichen
Geltungsbereich. Da aber die Rechtsverhältnisse selbst nichts Räumliches sind, sondern nur
Beziehungen zum Raum haben, die zu mehreren Rechtsgebieten bestehen und im Zeitablauf
wechseln können, ist eine Grenzberichtigung erforderlich. Sie erfolgt hinsichtlich der Privat-
rechtssätze unter dem Gesichtspunkt, daß in jedem Rechtsgebiet auch das fremde Recht als Recht
anzuerkennen und daher auch vom einheimischen Gericht insoweit anzuwenden ist, als ein zu
beurteilendes Rechtsverhältnis dem fremden Rechtsgebiet angehört. Die grundsätzliche An-
erkennung des fremden Rechts ist eine weltgeschichtliche Errungenschaft germanischer Her-
kunft. Sie wurde durch die Gleichberechtigung der Stammesrechte im fränkischen Reiche an-
gebahnt, durch die mittelalterliche Idee des christlichen Universalreichs erweitert und durch die
Ausbildung der modernen Völkerrechtsgemeinschaft vollendet. Dabei wurde mehr und mehr,
was zunächst als Lehre von der „Statutenkollision“ für das Verhältnis der Partikularrechte
zueinander entwickelt war, als „intermationales Privatrecht“ auf das gegenseitige Verhältnis
der in völlig getrennten Staatsgebieten geltenden Rechte übertragen. Immer bleibt die
Geltung des fremden Rechts Ausfluß eines Satzes des einheimischen Rechts, das daher auch
das Prinzip zu begrenzen und im einzelnen zu entfalten hat. Allein die wissenschaftliche Er-
kenntnis der nationalen Ausgestaltung des internationalen Privatrechts fordert Beachtung
der gemeinsamen europäischen Grundlage und der wirkenden internationalen Lebensgemein-
schaft. Darum ist die Lehre vom internationalen Privatrecht eine selbständige Wissenschaft
geworden. Auch das deutsche internationale Privatrecht ist auf diesen Zusammenhang an-
gewiesen. Um so mehr, als es nur zu einem kleinen Teil im EG. zum BG#. kodifiziert ist,
während im übrigen das bisherige Gewohnheits- und Gesetzesrecht aufgehoben ist und ein
neues Gewohnheitsrecht sich erst bilden muß. Hier sei nur bemerkt, daß hinsichtlich des Gel-
tungsbereichs der Rechtssätze das ursprüngliche germanische Personalitätsprinzip, demzufolge
das Recht an dem Personenkreise der Stammesgenossen haftete, schon im deutschen Mittelalter
dem durch die Verknüpfung immer zahlreicherer Rechtsverhältnisse mit dem Grundbesitz einge-
leiteten Territorialitätsprinzip wich, das von der Bodenständigkeit des Rechts ausgeht; daß
jedoch in neuerer Zeit vielfach und namentlich auch im neuesten deutschen Recht eine Wieder-
annäherung an das Personalitätsprinzip insoweit stattgefunden hat, als für die persönlichen
Privatrechtsverhältnisse der Staatsangehörigen die Herrschaft des am Wohnsitz geltenden Rechts
durch die Herrschaft des im Heimatsstaat geltenden Rechts ersetzt ist.
3. Zeitlicher Geltungsbereich. Doa die Rechtssätze in der Zeit entstehen
und vergehen, versteht es sich von selbst, daß jüngeres Recht das ältere bricht. Allein neues
Recht beherrscht nur die Zukunft und beläßt dem alten Recht seine Kraft für die Vergangen-
heit. Das alte Recht bleibt daher für die aus der Zeit seiner Herrschaft in die Zeit der Herr-
schaft des neuen Rechts hineinreichenden Rechtsverhältnisse maßgebend. Der Grundsatz, daß
neue Rechtssätze nicht zurückwirken, war dem älteren deutschen wie dem römischen
und kanonischen Recht bekannt, wurde von der Jurisprudenz theoretisch entwickelt, fand in die
großen Gesetzbücher (Preuß. ALR. Einl. §§ 14—17, Code civ. a. 2, Osterr. G. 95, Sächsf.
*+ 2) Aufnahme, und ist dadurch, daß das B#B. ihn nicht ausspricht, keineswegs beseitigt. Er
gilt für Gesetzesrecht wie für Satzungsrecht und Gewohnheitsrecht. Doch bedeutet er für
den souveränen Gesetzgeber nur eine innere Anforderung der Gerechtigkeit und daher für den
Richter dem Gesetze gegenüber nur eine Auslegungsregel. Das Gesetz kann sich selbst eine mehr
oder minder starke Rückwirkung beilegen. Im Zweifel aber ist anzunehmen, daß es nicht oder,
soweit Rückwirkungsabsicht feststeht, in möglichst schwacher Weise zurückwirken will. Nur wenn
ein Gesetz sich bloß als richtigstellende Auslegung bestehender Rechtssätze gibt („authentische
Interpretation"), ist für stärkste Rückwirkungsabsicht zu vermuten.
Die neueren Gesetzbücher und Gesetze pflegen für ihren besonderen Fall selbst
im einzelnen zu bestimmen, inwieweit für die bestehenden Rechtsverhältnisse das bisherige