18 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
griechischen Schriftsteller, vor allem die attischen Redner, bieten uns lebendige Zeugnisse des
griechischen Rechts, das nach dem babylonisch-persischen Recht einen großen Teil der Kultur-
welt beherrscht hat 1. Durch die zahlreichen Papyrusfunde in Agypten ist uns ein Einblick in
die unendliche Lebenskraft des griechischen Rechts während der Ptolemäerperiode und der
römischen Zeit gewährt worden ?2.
Für das slawische Recht haben wir ebenfalls eine Reihe der wichtigsten Zeugnisse,
so vor allem für das altrussische Recht, die uns neuerdings in der Ubersetzung und Be-
arbeitung von Götz zugänglich gemacht worden sind 3; im Keltischen bieten die sogenannten
Brehon laws und die leges Wallige, aber auch andere Quellen eine Menge der gewichtigsten
Aufschlüsse #. Aber auch über die Rechte der Ostasiaten haben wir eine außerordentliche
Fülle von Nachrichten; und wenn erst die altchinesischen und altjapanischen Rechtsdenkmäler
alle zugänglich gemacht sind, wird uns ein neuer Blick in die dortige Rechtsentwicklung zuteil
werden. Dazu tritt die unendliche Fülle der Nachrichten über das Recht der sogenannten Natur-
völker, d. h. derjenigen Völker, welche zwar eine Kultur, aber keine der unfrigen analoge Kultur
(eine Kultur ohne Schrift und ohne durchgebildetes Staatsleben) entwickelt haben.
Alüberall also eine Masse von Betätigungen des menschlichen Geistes, eine Menge von
Bestrebungen, um durch Gestaltung des Rechts und Anwendung der Rechtseinrichtungen den
Kulturbestrebungen des Volkes nachzukommen.
Aber mit der äußerlichen Kenntnis der Rechte ist es nicht getan; wir müssen die Rechte
auch verarbeiten. Die Verarbeitung muß unächst eine analytische sein: wir müssen den Rechts-
stoff in seine Bestandteile auflösen; erst diese Auflösung wird uns die Möglichkeit geben, ein
jedes Rechtsinstitut zu konstruieren und zu zeigen, aus welchen Bestandteilen es aufgebaut ist.
Der Jurist hat hier eine ähnliche Aufgabe wie der analytische Chemiker: wie dieser, muß er zu-
nächst auf die Elemente zurückgehen; hat er sie, so ann er die zusammengesetzten Stoffe in ihrem
Aufbau darlegen und zeigen, wie sie sich durch Aufnahme und Abstoßung von Elementen neu
bilden und neu gestalten können. Haben wir z. B. die Rechtseinrichtungen in ihre dinglichen
und obligationsrechtlichen Bestandteile zerlegt, haben wir überall gezeigt, wie das Rechtssubiekt
mit dem Rechtsobjekt zusammenhängt, haben wir überall ermittelt, wie durch Einbeziehung
neuer Elemente das Rechtsgeschäft sich vermannigfaltigen kann, dann haben wir eine nicht
bloß beschreibende, sondern eine in das Innere des Rechtes eindringende Kenntnis des Rechts
erworben. Sind wir so weit, dann ist eine zweite Behandlung des Rechts möglich: wir können
die Hauptsache von den Nebensachen, den Nerv von dem Beiwerk scheiden. Das ist absolut
erforderlich bei solchen Rechten, die konkret im Volke erwachsen und in der Volksgewohnheit
leben und sich entwickeln. Hier ist das Recht mit einer Menge von künstlerischen, religiösen und
sonstigen seelischen Elementen verbunden, und wir können es nicht erkennen, wenn wir es nicht
aus dieser Verbindung loslösen. Haben wir z. B. die Heiratszeremonien eines Volkes vor uns,
so werden wir sie nur dann unserem juristischen Verständnis eröffnen, wenn wir die Elemente,
welche Volksglaube, Volksphantasie, Mythus und Geisteridee hinzugefügt haben, abziehen.
und dasjenige übrig behalten, was etwa an Frauenkauf, Frauenraub, Seelenvereinigung oder
an sonstige juristische Anschauungs- und Betätigungsformen der Ehe erinnert.
Diese bis jetzt geschilderte Verarbeitung ist die rein juristische; sie ist aber nicht genügend;
sie ist insbesondere nicht genügend, wenn die Universalrechtsgeschichte eine Universalgeschichte der
Rechtskultur werden soll. Dann müssen wir das Recht in Verbindung setzen mit den übrigen
Kulturelementen, insbesondere mit dem Glauben und mit der Wirtschaftsgeschichte des Volkes.
Auch der ethnographische Charakter des Volkes, seine Zu- und Abneigungen, sein idealer oder
anti-idealer Sinn kommt in Betracht und wird in der Gestaltung des Rechtslebens erkennbar
sein. Beispielsweise wird in der Behandlung des Diebstahls der mehr oder minder wirtschaft-
liche Geist des Volkes, in der Behandlung der Blutrache und ihrer Ablösung bald die Rache-
leidenschaft und der stolze persönliche Sinn, bald der Erwerbstrieb und die Liebe zum Ver-
mögen, zu Geld und Gut an den Tag treten. Mit diesen Forschungen hat die Universalrechts-
: Kohler und Ziebarth, Das Stadtrecht von Gortyn (1912).
*Mitteis und Wilken, Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde (1912).
* Göt, Z. f. vol. Rechtsw. XXIV 241, XXVI 161, XXVIII 1.
* Hierüber meine Darstellung in Z. f. ogl. Rechtsw. XXIII S. 213, XXV S. 198.