2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 217
überlebenden Ehegatten und den Kindern bestimmend. Die Gemeinschaft zur gesamten Hand
überschritt dann das Familienrecht und entwickelte sich in den einzelnen Ständen zu besonderen
Typen, in denen sie durch Aufnahme einer vertragsmäßigen Ordnung zugleich gefestigt und
verfärbt wurde. Unter dem Landvolke entsprang daraus die bäuerliche Gemeinderschaft, im
hohen Adel die Erbverbrüderung, im niederen Adel die ritterliche Ganerbschaft („Burgfriede'),
im Bürgerstande die Arbeits- und Erwerbsgesellschaft, die Handelsgesellschaft, die Reederei.
Dazu kam die lehnrechtliche Verwendung bei der Belehnung zur gesamten Hand. Endlich wurde
die gesamte Hand auch zur Herstellung einer Personenverbindung für ein einzelnes Rechts-
verhältnis (z. B. eine Forderung, eine Schuld, eine Vollmacht) verwertet. In der Zeit der Vor-
herrschaft des römischen Rechts zurückgedrängt, hat die gesamte Hand sich doch im Leben be-
hauptet und in neueren Gesetzbüchern (besonders im Preuß. Landrecht, dann im Handelsgesetz-
buch) wieder durchgesetzt. Manche Formen sind abgestorben, aber auch neue Formen sind er-
blüht. Auch das BGB. konstruiert die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, die eheliche Güter-
gemeinschaft nebst ihrer Fortsetzung und die Gemeinschaft unter Miterben im Sinne der ge-
samten Hand.
Das Rechtsprinzip der gesamten Hand ist nicht bloß ungleichmäßigster Verwen-
dung, sondern auch stärkerer oder schwächerer Durchführung fähig. Immer erwirkt es vom
Personenrecht her eine Umbildung der von ihm ergriffenen sachen= oder schuldrechtlichen Ver-
hältnisse und bringt eine Annäherung des Individualrechts an das Sozialrecht hervor.
Bei jeder Gemeinschaft zur gesamten Hand besteht ein Bereich des ungeteilten
Gesamtrechts, in dem die Gemeiner nur in ihrer Verbundenheit als Personeneinheit
(kollektive Einheit) berechtigt und verpflichtet und zum Handeln berufen sind. Ursprünglich
fand die Personeneinheit in häuslicher Lebensgemeinschaft (Gemeinschaft des Brotes und Salzes)
Ausdruck, so daß durch Sonderung der Hausstände die gesamte Hand unterging. Frühzeitig
aber wurde statt der Tatteilung (Totteilung, Grundteilung) eine bloße Nutzteilung (Mutschierung,
Orterung) möglich, die der gesamten Hand nicht schadet („Totteilung bricht gesamte Hand,
Mutschierung bricht nicht gesamte Hand"). So konnte sich die gesamte Hand zu einem rein
ideellen Bande verflüchtigen. Die Personeneinheit äußert sich unter den Gemeinern in einer
Willensverbundenheit, vermöge deren im Bereiche des Gesamtrechts ein Gemeinschaftswille
(einstimmiger Beschluß, Mehrheitsbeschluß, Entscheidung eines Hauptes oder verwickeltere
Ordnung) herrscht. Die Personeneinheit wird aber auch Dritten gegenüber in mehr oder minder
ausgebildeter kollektiver Rechts- und Handlungsfähigkeit wirksam. Während bei Substanz-
verfügungen (namentlich über Grundstücke) regelmäßig alle zusammen tätig werden müsssen,
gilt im übrigen vielfach eine Vertretung kraft gesamter Hand, so daß die Gemeinschaft durch
ein Haupt oder einen Mitträger dargestellt wird.
Dem Gesamtrecht steht Sonderrech d der einzelnen Gemeiner gegenüber, insbesondere
bei Vermögensgemeinschaften irgendwie ein „Anteil“ am Gemeinschaftsgegenstande. Aber
bei den strengeren Formen der gesamten Hand ist dieser Anteil während des Bestandes der
Gemeinschaft unwirksam und hat überhaupt nur anwartschaftliche Bedeutung; auch ist er oft
der Größe nach vorläufig unbestimmt oder wechselnd. Er ist ferner bei den ursprünglichen
Formen der Verfügung des Teilhabers entzogen, vererbt nur auf Nachkommen oder überhaupt
nicht und gibt keinen Teilungsanspruch. Doch gibt es auch Formen mit frei veräußerlichen
und vererblichen Anteilen (z. B. Reederei), sowie Formen mit Teilungsanspruch (z. B. Erben-
gemeinschaft). Nur erschöpft sich auch hier das Gemeinschaftsverhältnis niemals in den sonder-
rechtlichen Anteilen. Wird ein Anteil (durch Verzicht, Verwirkung, Tod ohne Erbfolge) erledigt,
so tritt Anwachsung (Konsolidation) ein; das Recht am Gemeinschaftsgegenstande konzentriert
sich bei den übrigen Gemeinern oder dem einzigen Verbleibenden. Den Sonderrechten ent-
sprechen Sonderpflichten.
Literatur: Stobbe, Z. f. Rechtsgesch. IV 207 ff. Kuntze, Z. f. Handelsr. VI 177 ff.
Heusler, Inst. I § 50—53, II /. 128, 145 ff., 162. Kohler, Gesammelte Abh., S. 421 ff.
Wippermann, üÜber Ganerbschaften, 1873. M. Weber, Zur Geschichte der Handels-
gesellschaften im Mittelalter, 1889. M. Huber, Die Gemeinderschaften der Schweiz, 1897.
G. Cohn, Gemeinderschaften und Hausgenossenschaft, 18983. O. Gierke, Genossen-
schaftsr. II 923 ff.; Genossenschaftsth., S. 339 ff.; D. P.RK. I 80. Hübner 21.
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