Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

226 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
Mit der Scheidung von Landrecht, Lehnrecht und Hofrecht trat der landrechtlichen 
Gewere des Herrn eine lehnrechtliche Gewere des Vassallen und eine hofrechtliche 
Gewere des Bauern gegenüber. Schon zur Zeit der Rechtsbücher aber wurde die Lehns- 
gewere, später auch die hofrechtliche Gewere zugleich vom Landrecht anerkannt und geschützt. 
Mehr und mehr wurde so überhaupt von der Eigengewere („egenlike gewere“, 
Sachsensp. I a. 44 § 3) dessen, der eine Sache als ihm gehörig beherrscht, die einer begrenzten 
Rechtsherrschaft entsprechende beschränktere Gewere unterschieden; es gibt lehnische, 
Erbzins-, Leibzuchts-, Satzungs-, Pacht-, Mietsgewere, Gewere zu treuer Hand und Gewere 
zu rechter Vormundschaft. * 
Endlich findet eine Gewere auch an unkörperlichen Sachen statt. Für liegen- 
schaftliche Gerechtsan##e (oben §& 38) gilt das ganze Geweresystem. Aber auch an dinglichen 
Rechten, mit denen keine Sachgewere verbunden ist. wird eine Gewere anerkannt. So nament- 
lich an Zinsen und Renten. 
Die Wirkungen der Gewere fließen aus dem Grundgedanken, daß die Gewere eine 
rechtliche Vermutung für das in ihr erscheinende Recht begründet. Daraus erklärt sich ihre 
defensive, offensive und translative Funktion. 
Die Gewere dient der Rechtsverteidigung. Gewere soll, selbst wenn sie un- 
rechtmäßig gewonnen ist („raubliche“, „diebliche“ Gewere), nur mit Urteil und Recht gebrochen 
werden. Daher gibt sie gegen jeden außergerichtlichen Angriff die Befugnis der Selbst- 
verteidigung. Aber auch gegen den gerichtlichen Angriff erleichtert sie die Rechtsverteidigung, 
indem sie eine vorteilhafte Prozeßlage verschafft, insbesondere einen Beweisvorzug begründet. 
Wer Gewere für sich hat, ist näher zum Beweise des Rechts. Steht Gewere gegen Gewere, so 
entscheidet die stärkere Gewere. Stärkste Gewere ist die rechte Gewere; wer sie für sich hat, 
kann die Rechtmäßigkeit seines Besitzes durch einfachen Eid (nach salfränkischem Recht sogar 
ohne Eid) erhärten und braucht nicht auf seinen Gewährsmann zurückzugehen. 
Die Gewere dient ferner der Rechtsverwirklichung. Sie gibt einen Anspruch 
auf Verwirklichung des ihr entsprechenden Zustandes, zum Teil gegenüber einer schwächeren 
Gewere durch Eigenmacht („Unterwinden"), zum Teil (wenn Urteil oder Auflassung zugrunde 
liegt) durch gerichtliche Besitzeinweisung, im übrigen nur durch Klage, die aber durch die 
Prozeßvorteile aus der Gewere erleichtert wird. So entspringt der ideellen Gewere ein An- 
spruch auf Herstellung (für den Entwerten auf Wiederherstellung) der leiblichen Gewere. Die 
amwartschaftliche Gewere gibt beim Eintritt der Bedingung, von der ihre Verwirklichung abhängt, 
Bemächtigungs- und Klagerecht. Die infolge Weggabe der Sache ganz oder teilweise ruhende 
Gewere begründet, sobald das Besitzrecht erledigt ist, eine Klage auf Rückgewähr; diese Klage 
um anvertrautes Gut geht aber nur als Liegenschaftsklage gegen jedermann, dagegen als 
Fahrnisklage nur gegen den Empfänger („Hand wahre Hand“"). Endlich gibt auch frühere Ge- 
were, sobald sie unfreiwillig verloren ist, eine Klage auf Herausgabe der Sache; diese Klage 
aus unfreiwillig verlorener Gewere geht auch als Fahrnisklage gegen jedermann. 
Die Gewere dient schließlich der Rechtsübertragung. Die Ubertragung von 
Gewere ist das allgemeine Mittel für die Ubertragung oder Begründung von Sachenrecht. Hier 
aber spalten sich Liegenschafts- und Fahrnisrecht, indem dort mehr und mehr die Ubertragung 
ideeller Gewere entscheidend wurde (vgl. unten §& 44), hier die Einräumung leiblicher Gewere 
erforderlich ist. An sich ist die Gewere nur Mittel der Rechtsübertragung, so daß der Rechts- 
erwerb durch Rechtsmangel beim Vorgänger gehindert wird. Allein in erheblichem Um- 
fange wohnt der Gewere Legitimationskraft inne, vermöge deren sie formelle Verfügungs- 
macht im Verkehr gibt. Während daher einerseits, wer Recht übertragen will, Gewere haben 
muß, wird anderseits, wer dem von der Gewere erweckten Schein traut, in seinem Rechts- 
erwerb geschützt. Er erlangt zunächst die Gewerevorteile, zuletzt aber möglicherweise, trotz 
Mängel im Recht des Vorgängers, das Recht selbst. Im Liegenschaftsrecht heilt die „rechte 
Gewere“ insoweit, als sie die Verschweigung der Anfechtungsrechte bewirkt, Mängel des Rechts- 
titels. In Fahrnisrecht schützt der Satz „Hand wahre Hand“ den Erwerber vor der Verfolgung 
der Ansprüche Dritter. 
Alle Gewere ist gerichtlich geschützt. Das deutsche Recht kannte aber keine be- 
sonderen Besitzschutzklagen, sondern behandelte die Frage, wem die Gewere und welche Gewere
	        
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