Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

228 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
wurden, so wurde im gemeinen Recht ihr lange erschütterter rein possessorischer Charakter 
wiederhergestellt. Auch das BGB. regelt die Ansprüche aus Entziehung oder Störung des Be- 
sitzes als reine Besitzschutzansprüche, die es nur dem veränderten Besitzesbegriff anpaßt, und 
schließt Einreden aus dem Recht auf Besitz grundsätzlich aus. 
Daneben aber legt das BGB. dem Besitz eine Wirkungskraft für Verteidigung 
und Durchsetzung des in ihm erscheinenden Rechts selbst bei. Diese 
formale sachenrechtliche Kraft des Besitzes ist rein deutschen Ursprungs. Darum eignet sie 
auch nur dem Fahrnisbesitz, während im Liegenschaftsrecht die entsprechenden Funktionen der 
Gewere auf den Grundbucheintrag übergegangen sind. Sie äußert sich erstens in der durch 
den Besitz begründeten Vermutung für ein ihm entsprechendes Eigentum oder dingliches Recht, 
die nur gegenüber dem, der den Besitz unfreiwillig verloren hat, versagt (BG. § 1000). 
Zweitens in der auch bei bloß persönlichem Besitzrecht dem Besitzer zustehenden Einrede gegen 
den Herausgabeanspruch des Eigentümers (§ 986 Abs. 2). Drittens in der mit der alten 
Fahrnisklage aus unfreiwillig verlorener Gewere übereinstimmenden Klage aus früherem Be- 
sitz, die als Besitzrechtsklage auf endgültige Herausgabe der abhanden gekommenen Sache geht 
und nur am besseren Besitzrecht des gegenwärtigen Besitzers oder an eigenem bösgläubigem 
Besitzerwerbe scheitert (§ 1007). 
Hinsichtlich der Rechtsübertragung hat der Besitz bei Fahrnis die Bedeutung 
der Gewere als Übertragungsmittel von Eigentum und dinglichem Recht und ihre Legitimations- 
kraft übernommen, während bei Grundstücken auch hier der Grundbucheintrag die Gewere- 
funktion fortsetzt. 
Literatur: Bruns, Das Recht des Besitzes im Mittelalter und in der Gegenwart, 1848. 
Delbrück, Die dingliche Klage des deutschen Rechts, 1857. Cosack, Der Besitz des Erben, 
1871. O. Gierke, Die Bedeutung des Fahrnisbesitzes für streitiges Recht, 1897; D.P.R. II 
&& 114—116. Hübner # 29. 
§ 44. Die Form des Liegenschaftsverkehrs im deutschen Recht. Die Durchführung 
des Publizitätssystems im Liegenschaftsverkehr äußerte sich seit alter Zeit darin, daß die Uber- 
eignung von Grundstücken an eine feierliche und öffentliche Übertragung der Gewere ge- 
bunden war. Der Veräußerungsvertrag gibt nur einen Anspruch auf Ubereignung. Aus 
der Fort- und Umbildung dieses Gedankens entsprang der gesamte Formalismus des Liegen- 
schaftsrechts. 
I. Ursprünglich fand die UÜbereignung auf dem Grundstücke selbst vor zugezogenen 
Gemeindezeugen statt. Sie zerfiel aber in zwei verschiedene Handlungen. Die erste von ihnen 
ist die Sala (traditio), die als feierliche, mit „Hand und Mund“ (d. h. mit Sinnbildern und 
deutenden Worten) vollzogene Willenserklärung einen dinglichen Vertrag darstellt. Sie setzt 
sich zusammen aus der Gabe (UÜbereignungserklärung unter Darreichung einer aus dem Boden 
gehobenen Scholle), der symbolischen Investitur (Bekleidung des Erwerbers mit dem Hand- 
schuh oder einem anderen Herrschaftszeichen, z. B. Messer) und der Auflassung (der Verzichts- 
oder Räumungserklärung, der resignatio oder dem se exitum dicere des Veräußerers, bei 
den Franken durch Wurf von Halm oder Stab als effestucatio, bei den Sachsen durch Ge- 
lübde mit gekrümmten Fingern vollzogen). Als zweite Handlung schloß sich unmittelbar die 
Gewere (vestitura) an, die gleichfalls feierliche Einführung in den leiblichen Besitz; wollte der 
Erwerber nicht im unmittelbaren Besitz bleiben, so gehörte zur Vollwirksamkeit des Besitz- 
wechsels die ihn offenkundig machende sessio triduana (unmittelbarer Besitz durch drei Tage 
und drei Nächte). 
II. Fortbildung. Die Fortbildung knüpfte daran an, daß die Salung vom Grund 
stücke an einen anderen öffentlichen Ort (bei Traditionen an die Kirche oft in die Kirche) ver- 
legt wurde. Dabei trat neben die volksrechtlichen Formen die traditio per cartam (durch 
Hinlegen und Aufnehmen der Geschäftsurkunde). Vor allem aber wurde die Vergabung vor 
Gericht (zuerst vor dem Königsgericht) üblich. Sie schließt mit einem Urteil, daß die Gabe recht 
und redlich geschehen sei, mit einem richterlichen Aufgebot der Anfechtungsberechtigten und 
mit der richterlichen Bestätigung („Friedewirken“). Hieraus fließen besondere Vorteile. Der 
Erwerber erlangt das Gerichtszeugnis und auf Verlangen eine Gerichtsurkunde; er hat einen
	        
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