J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 25
welche seine Herren waren, werden jetzt seine abhängigen Knechte. Der Kultus der Arbeit ist
das wahre Gegenmittel, wodurch der Individualismus seine eigenen Schäden überwindet, und
er unterscheidet vor allem unsere Zeit vor dem Altertum, wo selbst die erlauchtesten Geister,
wie Plato und Aristoteles, den Arbeiter geringschätzig behandelten.
II. Verhältnisse von Mensch zu Mensch.
a) Verhältnisse inniger Art.
a) Familienrecht.
8§ 17. Totemismus 1.
Die Menschheit entwickelt sich ursprünglich in Gesamtheiten, der Einzelmensch tritt erst
allmählich und langsam aus der Horde und Familie hervor. In der Familie insbesondere hat
ursprünglich jeder die Wurzel seines Wesens; sie verteidigt ihn, sie hat es zu büßen, wenn er
Untaten verübt, sie verkehrt mit anderen Familien: der Einzelne ist recht- und machtlos. Die
Gesamtheit der Familie nun, die auf solche Weise eine Einheit bildete, war religiös verknüpft:
das rechtliche Band entsprach einem religiösen, der Familienverband war ein Totem verband.
Totem ist das Stammzeichen, gewöhnlich ein Tierzeichen; aber er ist nicht bloß etwas
Außerliches: denn derartige Formen haben bei den Völkern ursprünglich eine sehr tiefe inmer-
liche Bedeutung. Es herrscht nämlich der Gedanke, daß der Totemstamm nicht nur das Zeichen
des Tieres trage, sondern auch die Seele des Tieres in sich habe, weshalb das Tier als Stamm-
gott verehrt wird und alle Totemmitglieder sich scheuen würden, es zu töten oder zu be-
unruhigen. Auch herrscht noch vielfach der Gedanke, daß man im Tode in dieses Tier zurück-
verwandelt werde.
Dieser Totemismus ist über die ganze Erde verbreitet, er beruht auf Vorstellungen, die
in den ältesten Gedanken= und Empfindungsreihen unseres Geschlechts wurzeln; schließlich
flüchtet er sich in die Sagenwelt, denn die Melusinensage, wonach eine Stammutter des Ge-
schlechts ein Tiergeist gewesen ist, ebenso wie die Lohengrinsage, wonach dies beim Stamm-
vater der Fall war, sind nichts anderes als großartige Uberreste dieser aus früheren Lebens-
anschauungen stammenden mythologischen Idee 7.
Dieser Totemismus hat dazu geführt, daß die Völker sich als eines fühlten, und wenn
zwei Totemgruppen sich heirateten, so traten die Totemgeister dadurch in eine geheimnisvolle
Beziehung. So entstanden die ersten Staaten; ein Hauptmittel des Zusammenhaltes aber
war die kreuzweise Gruppenehe.
§ 18. Lösung der Totemfamilie: Weiheschar, Sondergeist und Ahnenkult.
Allmählich zerfielen die totemistischen Verbände, und neue staatliche Einrichtungen traten
ein auf Grund neuer familienrechtlicher Beziehungen.
Zu den Einrichtungen, welche die totemistische Gestaltung durchbrachen, gehört vor allem
die gemeinsame Jünglingsweihe. Es ist eine allgemeine Ubung unseres Menschen-
geschlechts, daß Jünglinge und Mädchen im Alter der Reife eine gewisse Zeit der Prüfung und
der Abgeschlossenheit durchzumachen haben, um nachträglich als vollgültige Mitglieder in die
Gesellschaft der Männer und Frauen zu treten. Wie alle großen Erscheinungen des Rechts-
lebens, hängt auch diese mit dem Glauben zusammen: sie beruht auf dem Gedanken der Seelen-
erneuerung; der Knabe legt die Seele des Kindes ab und nimmt die Seele des Erwachsenen an.
Daher der vielfache Glaube, daß die Jünglinge durch ein Ungetüm verzehrt und in irgendeiner
Weise wiedergeboren werden: sie vergessen das bisherige Leben und treten ganz neu in die
menschliche Gesellschaft ein.
Zu diesem und den nächstfolgenden Kapiteln vgl. meine Urgeschichte der Ehe, sodann zahl-
reiche dufläfe in der Zeitschr. f. vergl. Rechtswissenschaft. Bgl. auch neuerdings Thurnwald
ebenda XXIII S. 327 und Adam XXIX S. 86.
* Bgl. meine Schrift über die Melusinensage (1895).