Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

290 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
Auch der Wille des Erben entbehrt der schöpferischen Kraft für den Erbgang; der 
Erbe rückt von Rechts wegen ein (unten §& 110). 
II. Die deutsche Erbfolge ist Nachfolge in die Hinterlassenschaft. Sie 
bewirkt den Anfall von Vermögen im Sinne einer objektiven Einheit. Der römische Ge- 
danke der Universalsukzession als Eintritt in die subjektive Einheit, die das Vermögen im Erb- 
lasser hatte, war dem deutschen Recht fremd. Wir haben den römischen Gedanken uns zu eigen 
gemacht, aber nur mit wesentlichen Einschränkungen. 
Die deutsche Erbfolge spaltete sich nach Sondervermögen, in die der Nachlaß 
zerfiel. Ungleich wurden vielfach Liegenschaften und Fahrnis vererbt. Unter den Liegen- 
schaften gehen Eigen und Lehen oder hofrechtliches Erbe, Stammgüter und Kaufgüter ihre 
eigenen Wege. Aber auch aus der Fahrnis werden Sondewermögen ausgeschieden. Der 
Mann vererbt das Heergewäte (den Inbegriff der kriegerischen Ausrüstung) besonders an die 
nächsten Schwertmagen (mit Vorzugsrecht des ältesten am Schwert). Die Frau vererbt die 
Gerade (Gegenstände des weiblichen Gebrauchs und zum Teil auch die Hauseinrichtung) be- 
sonders an die nächste Niftel (weibliche und durch Weiber Verwandte). Doch wurde frühzeitig, 
was nicht ausgesondert wird, als „Erbe"“ zusammengefaßt (Sachsensp. I a. 24). Und in den 
Städten begann die Vereinheitlichung der Erbmasse. Mit der Rezeption drang sie grundsätz- 
lich durch. Doch erhielt sich die Sondererbfolge in gebundene Güter (unten Kap. IV). Parti- 
kularrechtlich blieben Heergewäte und Gerade (noch im Preuß. LR. II 1 F 502 ff. geregelt) 
in Kraft, sind aber jetzt verschwunden. 
Die deutsche Erbfolge war aber Nachfolge in einen Vermögensinbegriff als 
Ganzes, also nicht Sondernachfolge in einzelne Gegenstände, sondern Sondergesamtnach- 
folge. Daher gingen auch Forderung und Schulden, aber nur mit dem Sondervermögen, 
zu dem sie gehörten, und die Schulden ohne persönliche Haftung über. Auch in diesem Punkte 
konnte die römische Universalsukzession das deutsche Recht nicht völlig überwinden (unten § 116). 
Literatur: Beseler, Erbverträge Bd. I, 1835. v. Sydow, Doarstellung des Erb- 
rechts nach dem Sachsensp., 1828. Siegel, Das deutsche Erbrecht, 1853,. v. Freytagh- 
Loringhofen, Der Sukzessionsmodus des deutsch. Erbrechts, 19008. Klatt, Das Heergewäte 
(Beyerles Beitr. II 2), 1908. Hübner K 102 ff. v. Schwerin S. 96ff. 
8 116. Erwerb der Erbschaft. Der berufene Erbe erwirbt mit dem Tode des Erb- 
lassers die Erbschaft von Rechts wegen: „Der Tote erbt den Lebendigen.“ Er erlangt zu- 
gleich die Gewere („le mort Saisit le vik“); feierliche Besitzergreifung (anevang) und gerichtliche 
Besitzeinweisung dienten nur der Sichtbarmachung und eventuellen Durchsetzung der leiblichen 
Gewere. Dieser Satz des deutschen Rechts stammt aus der ursprünglichen Gestalt der Haus- 
gemeinschaft, in der die Kinder bereits als Teilhaber erscheinen, deren anwartschaftliches Recht 
am Hausvermögen mit dem Wegfall des Familienhauptes in gegenwärtiges Recht übergeht; 
er wurde dann bei aller Erbfolge festgehalten. Eine Steigerung erfuhr er in doppelter Rich- 
tung. Einmal bei der Gemeinschaft zur gesamten Hand, bei der, soweit nicht Nachkommen 
einrücken, Anwachsung stattfindet und somit überhaupt das Erbrecht durch Anwachsungsrecht 
ersetzt wird. Sodann bei der Lehns- und Fideikommißfolge, bei der das Erbrecht als Aus- 
fluß eines vom ersten Erwerber zugleich für alle seine Nachkommen begründeten anwartschaft- 
lichen Rechts erscheint. Doch es ist unrichtig, alle germanische Erbfolge entweder auf ein ur- 
sprüngliches Gesamteigentum oder auf den Erwerb der Gewere für die Nachkommen zurück- 
zuführen. 
Der Satz „Der Tote erbt den Lebendigen“ wurde im gemeinen Recht durch das röm. R. 
verdrängt, erhielt sich aber in Partikularrechten, ging in das Preuß. LR. und (hier nur für 
die gesetzliche Erbfolge) den Code civil über und liegt dem BGB. zugrunde. Somit vollzieht 
sich auch heute der Erwerb der Erbschaft durch den Erben von Rechts wegen ohne Wissen und 
Wollen im Augenblicke des Erbfalls. Gleichzeitig geht der Besitz über. Es gibt keine ruhende 
Erbschaft. Vielmehr ist stets eine Erbe vorhanden, wenn es auch ungewiß oder unentschieden 
sein kann, wer der Erbe ist. Soweit ein Bedürfnis vorliegt, wird ein Nachlaßpfleger zur Ver- 
tretung des Erben bestellt. Für den römischen Unterschied von Inkapazität und Indignität 
ist kein Raum; es gibt nur eine Erbunwürdigkeit, die den Anfall der Erbschaft ausschließt (val.
	        
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