302 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
Im Falle der Minderjährigkeit des Anerben trat nach deutschem Bauernrecht in vielen
Gegenden die Interimswirtschaft (Setzwirtschaft) ein. Der Interimswirt ist ein
obrigkeitlich (mit Anspruch der Mutter auf Berücksichtigung eines zweiten Ehemannzg) bestellter
Vertreter, der kraft eigenen Rechtes den Hof besitzt, verwaltet und nutzt, jedoch über die
Substanz nicht verfügen kann, zu ordnungsmäßiger Wirtschaft verpflichtet ist und die Hofes-
lasten tragen, insbesondere auch den Anerben und dessen Geschwister auf dem Hofe unter-
halten und erziehen und Ausstattungen und Abfindungen besorgen muß. Sein Recht endet
mit Ablauf der „Maljahre“ oder mit früherer Entsetzung. Die neueren Gesetze haben das
Institut nicht aufsgenommen, gewähren aber dem Erblasser die Befugnis, ohne Rücksicht auf
Pflichtteilsansprüche dem leiblichen Vater oder der leiblichen Mutter des minderjährigen An-
erben eine ähnliche Stellung einzuräumen.
Anstatt durch Erbgang wird überaus häufig die Nachfolge in Bauergüter durch Guts-
abtretung gegen Altenteil bewirkt. Nach uralter Sitte, die sich in ganz Deutsch-
land erhalten und nach Aufhebung des Anerbenrechts noch ausgebreitet hat, tritt der alt-
gewordene Bauer den Hof an den Anerben oder einen erwählten Erben ab und bedingt sich
dafür einen anständigen Lebensunterhalt als Altenteil (Altvaterrecht, Auszug, Leibgedinge,
Leibzucht) aus. Meist wird genau festgesetzt, was als Altenteil zu leisten ist: Wohnung, etwas
Landnutzung, wiederkehrende Naturalleistungen mancher Art, Taschengeld. Nähere Bestim-
mungen über das daraus entspringende Schuldverhältnis finden sich in allen Ausführungs-
gesetzen zum BGB. (auf Grund C. a. 96). Der junge Bauer übernimmt gewöhnlich mit
dem Hofe zugleich die Hofesschulden und die Verpflichtung, als nunmehriges Haupt der
Familie für Erziehung und Unterhalt und später für Ausstattung und Abfindung der Ge-
schwister zu sorgen. Meist werden die Abfindungen gleich im Gutsabtretungsvertrage fest-
gesetzt. Die Gutsabtretung erscheint so als „erfrühte Erbfolge“ und wird namentlich benutzt,
um den Erfolg, den das Anerbenrecht sichern soll, unter Lebenden zu erreichen. Ihrem recht-
lichen Wesen nach bleibt sie aber Rechtsgeschäft unter Lebenden. Daher bedarf es der über-
eignung des Hofes durch Auflassung und Eintragung. Auch das Altenteilsrecht, das nach bis-
herigem Recht ohne weiteres dinglich war, wird erst durch Eintragung zum dinglichen Recht
(teils beschränkte persönliche Dienstbarkeit, teils Reallast). Die Eintragung kann aber jeder-
zeit verlangt werden.
Literatur: v. Miaskowski, Das Erbrecht u. die Grundeigentumsverteilung im Deut-
schen Reich, 1882/84. Baernreither, Das Stammgutersystem u. das Anerbenrecht, 1882.
Frommhold, Die rechtliche Natur des Anerbenrechts, 1886; Deutsches Anerbenrecht
(Sammlung), 1896. v. Dultzig, Das deutsche Grunderbrecht in Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft, 1899. M. Sering, Die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes in Preußen,
1897 ff. (insbesondere Sering Einleitung zu Bd. V. Hermes, Art. „Anerbenrecht“ im
Handwörterbuch d. Staatsw.“ 1 470 ff. — Runde, Die Lehre von der Interimswirtschaft,
2. Ausg. 1832. — Runde, Die Rechtslehre von der Leibzucht oder dem Altenteil auf deutschen
Bauerngütern, 1805. Hänsel, Die Lehre von dem Auszuge oder der Leibzucht, 1834. W. H.
Puchta, Über die rechtliche Natur der bäuerlichen Gutsabtretung, 1837.