Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

Einleitung. 
§ 1. Die Macht des römischen Reichs war längst in Trümmer gesunken, als das römische 
Recht wiederauferstand und die Herrschaft über einen großen Teil Europas eroberte. Diese 
Herrschaft hat es dann durch Jahrhunderte behauptet, und auch heute noch wirkt sie durch 
Vermittlung der von ihm beeinflußten modernen Gesetzgebungen bedeutsam nach. Wie er- 
klärt sich diese erstaunliche Tatsache? In erster Linie gewiß aus bestimmten geschichtlichen 
Konstellationen, die dem eindringenden römischen Recht die Bahn ebneten, ihm den Sieg über 
die alteinheimischen Rechte erleichterten. Aber es hätte diesen Sieg doch nimmermehr er- 
ringen können, wenn es nicht eine eigentümliche innere Lebenskraft besessen hätte, die es be- 
fähigte, auch den Bedürfnissen der modernen Welt in weitem Maße genugzutun, und die Natur 
dieser Lebenskraft gilt es zu erkennen. 
Es gab eine Zeit, da man, Hegel 1) folgend, glaubte, die Eigenart der welthistorischen 
Reiche und so auch ihrer Rechte nach Prinzipien konstruieren zu können. Diesen Weg wird 
heute niemand mehr gehen wollen. Die historische Schule sodann sah in dem Recht ein Pro- 
dukt des Volksgeistes, einen Teil des Nationallebens der Völker, und so postulierte sie denn 
bei jedem Volk, seiner besonderen Nationalität entsprechend, auch eigenartige Rechtsanschau- 
ungen, einen besonderen nationalen Charakter des Rechts. Gewiß nun liegt darin ein gut Stück 
Wahrheit; es wäre seltsam, wenn die besonderen nationalen Anlagen eines Volkes sich nicht 
auch in seinem Rechte widerspiegelten. So dürfte z. B. die relative Armut des altrömischen 
Rechts an Symbolen und symbolischen Handlungen gegenüber der reichen Symbolik des alt- 
deutschen auf eine gewisse verständige Nüchternheit zurückgehen, die im römischen National- 
charakter lag. Aber die historische Schule hat die Bedeutung dieser nationalen Elemente im 
Recht außerordentlich überschätzt. Weit bedeutsamer als sie sind für die Gestaltung und Ent- 
wicklung des Rechts bei den verschiedenen Völkern — dies darf als ein gesichertes Ergebnis 
der neueren rechtsvergleichenden Forschung gelten — deren allgemeine Kulturerhältnisse. 
Auch in dem Werden dieser spielt freilich Rassenanlage und Volkscharakter eine gewisse Rolle, 
eine unendlich viel größere aber die allgemeine Menschennatur, die geographischen Verhältnisse, 
in die ein Volk gesetzt ist, und die Berührung mit anderen Völkern, von denen es Kulturelemente 
entlehnt. Ahnliche Kulturverhältnisse führen zu ähnlichen Rechtsbildungen. Nur so erklärt 
sich die überraschende Ubereinstimmung in den Rechten so vieler auf primitiver Kulturstufe 
stehender Völker und Stämme, nur so die enge Verwandtschaft, die sich neuerdings in den 
Grundzügen so mancher Rechtsinstitute herausgestellt hat, nicht nur zwischen griechischem und 
germanischem, sondern selbst zwischen assyrisch-babylonischem, ägyptischem und griechisch-römi- 
schem Recht; nur so endlich die immer fortschreitende Uniformierung des Rechts der modernen 
Kulturvölker. Einem ähnlichen Uniformierungsprozeß sind schon in der römischen Kaiserzeit 
allmählich fast alle nationalen Elemente des römischen Rechts zum Opfer gefallen; was im 
modernen Europa zur Aufnahme gelangte, das war nicht ein nationales Recht im Sinne der 
historischen Schule, sondern das Universalrecht der antiken Kulturwelt, ein Produkt der das 
römische Reich beherrschenden römisch-griechischen Kultur. Sicherlich hat das römische Recht 
nur vermöge dieser Universalität in die nationalen Rechtskreise eindringen können; durch seine 
Rezeption wurden vielfach Entwicklungen vorausgenommen, die sich auch ohne sie autonom 
in diesen Rechtskreisen selbst hätten vollziehen müssen. Einem stärker national gefärbten Rechte 
Grundlinien der Philosophie des Rechts 3 354 f. 
Encyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band I. 20
	        
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