J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 27
die Frauen des Totem B, und umgekehrt, und zwar nicht die Einzelnen die Einzelnen, sondern
zusammen: die vielleicht 20 Männer des einen Totem heirateten 20 Frauen des anderen, so
daß kein Einzelner eine besondere Frau hatte, sondern jeder der 20 Männer seinen Anteil hatte
an jeder der 20 Frauen. Auf diese Weise entstanden aus den Totems A und B (wenn wir die
Männer mit großen, die Frauen mit kleinen Buchstaben bezeichnen) die zwei Gruppenehen
A:b und B:a. Dies bewirkte, unserer Anschauung gegenüber, eine außerordentliche Ver-
schiebung aller Verwandtschaftsbeziehungen; denn alle Kinder der Gruppenehe A: b be-
zeichnen die A als Bäter und die b als Mütter, während umgekehrt die Kinder der Gruppe B: a
die B als Bäter und die a als Mütter bezeichnen; nicht etwa deswegen, weil Erzeuger und Er-
zeugerin unsicher wären, sondern deshalb, weil das Kind als Kind der Gruppe gilt. Die Folge
ist die, daß jeder Mann den Sohn seines Bruders Sohn nennt und den Bruder seines Vaters
Vater. Ebenso nennt jede Frau den Sohn ihrer Schwester Sohn. Anders gestaltet sich das
Verhältnis zwischen einem Mann und dem Sohn seiner Schwester: dieser gehört nicht mehr
der nämlichen Gruppenehe, sondern der entsprechenden anderen Gruppenehe an; bei der
(Gruppe A:b nennt 4A den Sohn seiner Schwester a nicht Sohn, denn er stammt nicht aus der
Gruppenehe A: b, sondern aus der Gruppenehe B: a; er nennt ihn daher Neffen, und dieser
nennt ihn Onkel; so entwickelt sich der Neffen- und Onkelbegriff.
1#. Nach diesem System findet sich die Gruppenehe bei den Australiern wie bei einer großen
Reihe von Rothäutestämmen, und auch bei Negerwölkern ist sie noch nachweisbar. Es gibt aber
auch noch andere Formen, in der sie sich entwickelt. Bisher haben wir die regelrechten Fälle
angenommen, daß die Männer der einen Generationsstufe stets nur Frauen derselben Generations-
stufe heiraten. Aber es gibt auch Stämme, wo ein Mann nicht nur die Schwester seiner Frau,
sondern auch die Nichte und Tante seiner Frau heiratet und umgekehrt.
Ubrigens liegt allen diesen Gruppenehen der Satz zugrunde, daß eine Gruppe die andere
heiratet; keine Gruppe heiratet in sich selbst: mithin darf niemals ein Mitglied der einen Gruppe
mit einem Mitglied derselben Gruppe geschlechtlich verkehren: dies wäre der schwerste Frevel.
So entsteht aus der Gruppenehe von selbst dasjenige, was man Exogamie nennt. Doch
scheint dieses System erst ein Ergebnis später Entwicklung zu sein, denn es lassen sich nament-
lich in der Südsee Familienformen erkennen, wonach die Gruppe auch in sich selbst, wo also
insbesondere Bruder und Schwester heiraten durften.
Man hat die ganze Lehre von der Gruppenehe bestreiten wollen, aber mit so wenig
kritischem Eingehen auf die Nachweise, die Morganu u. a. gebracht haben, daß diese Be-
streitung keiner weiteren Berücksichtigung bedarf.
8 20. Mutterrecht und Übergang zum Vaterrecht.
Die totemistischen gruppenehelichen Verhältnisse der Menschheit beruhten ursprünglich
auf dem Mutterrecht: das Kind gehörte dem Totem der Mutter, nicht dem Totem des
Vaters an; also z. B. das Kind der Gruppenehe A: b war ein B und kein A. Dies ist begreif-
lich, denn die Zusammengehörigkeit mit der Mutter und mit ihrer ganzen Gruppe drängte sich
von selbst auf, nicht nur durch die Geburt, sondern auch durch die Schicksale des Kindes, das in
den ersten Jahren von der Mutter ernährt und vollkommen von ihr erzogen wurde. Dieses
Mutterrecht hat die Menschheit jahrhundertelang beherrscht, ist aber dann meist in das Vater-
recht übergegangen, wonach das Kind nicht dem Totem und der Familie der Mutter, sondern
dem Totem und der Familie des Vaters angehört. Ein gewisser Zwang hat die Völker dazu
geführt.
Einmal sah man sich genötigt, die großen Totems in Untertotems zu zerschlagen, und
da geschah es nicht selten, daß man den Einteilungsgrund für die Untertotems von den Bätern
Vor allem in seinem grundlegenden Werke: Systems of consanguinity and affinity of
the human mankind (Washington 1871 — in den Smithsonian Contributions to Knowledge).
Wer dieses Quellenwerk nicht durchgearbeitet hat, hat überhaupt kein Recht, in der Sache mit-
zusprechen. Über Gruppenehe und Totemismus vgl. meine 1argeschichte der Ehe (aus Zeitschr. f.
vergl. Rechtswissenschaft) und die Einzelnachweise, die ich in verschiedenen Aufsätzen jener Zeit-
schrift gegeben habe. Weitere Materialien boten, namentlich für Australien, Dowitt und Fi
Spencer und Gillen, Roth u. a. Darüber Berichte und Aufsätze in der Z. vgl.
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