3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 311
Quirinal — zu einem Gemeinwesen. Wann und unter welchen Einflüssen sie sich vollzog,
darüber fehlt uns jede als historisch zu betrachtende Kunde. Höchste Wahrscheinlichkeit aber
spricht dafür, daß diese Verbindung nicht durch freie Vereinbarung zustande kam, sondern durch
den harten Zwang eines städtegründenden Eroberers auferlegt wurde, der sich an dieser von
der Natur dafür vorbestimmten Stelle ein festes Bollwerk errichten wollte. Eroberer, etruskische
Eroberer haben geraume Zeit über Rom geherrscht, darüber kann kein Zweifel sein. Die
römische Tradition selber, so sehr sie den wahren Charakter dieser Fremdherrschaft zu verdecken
bestrebt ist, verschweigt uns ja nicht, daß die letzten Könige Etrusker waren. Nur so erklärt sich
der starke etruskische Einschlag in römischen Einrichtungen und Gebräuchen einschließlich des
Ritus der Städtegründung selbst 1; nur so die zahlreichen Namen etruskischer Abstammung
innerhalb des römischen Patriziats 2. Damit steht nicht in Widerspruch, daß Rom bei seinem
Eintritt in die Geschichte als rein latinische Stadt erscheint. Was in Latium an fremden
Volksbestandteilen vorhanden war, das haben die Latiner sich assimiliert. Daß dies Schicksal
auch die etruskischen Herren traf, ist nicht wunderbarer, als die im Licht der Geschichte voll-
zogene Anglisierung der normannischen Eroberer Englands durch die breite angelsächsische
Unterschicht.
Wer aber waren die Latiner? Ihre Sprache gehört dem italischen Zweige des indo-
germanischen Sprachstamms an, und auch in Sitte und Recht weisen zahlreiche Spuren darauf
hin, daß sie jenem Volke der Indogermanen entstammen 3, dessen Ursitze auch heute noch nicht
vollkommen feststehen, aber doch wohl im mittleren Europa zu suchen sind. Von Norden her
sind die Latiner und die ihnen stammverwandten Sabeller und Umbrer in Italien einge-
wandert. Man hat geraume Zeit angenommen, daß zwischen diesen Italikern und den Griechen
eine besonders enge Verwandtschaft bestanden habe, daß beide zusammen in der Vorzeit einmal
eine Einheit gebildet hätten; man hat daraufhin selbst den Versuch einer gräko-italischen Rechts-
geschichte gewagt. Diese Annahme scheitert nicht nur daran, daß Italiker und Griechen tief-
greifende Unterschiede in Anlagen, Charakter, Religion, Lebenssitte, Recht und der ganzen
Richtung des geistigen Lebens aufweisen; sie steht auch in Widerspruch mit den neueren Er-
gebnissen der Sprachvergleichung: der italische Sprachzweig ist danach näher mit dem kelti-
schen als mit dem griechischen verwandt. Allgemein indogermanisches Erbteil aber läßt sich
allerdings im römischen Rechte nachweisen.
§ 5. Die ältesten Rechtszustände in Rom muß man sich sehr einfach denken. Stadt und
Gebiet umfaßten wenige Quadratmeilen; die Einwohner waren entsprechend gering an Zahl,
eine Bauernbevölkerung. Die Viehwirtschaft hat große Bedeutung; aber die Kraft des Landes
liegt im Ackerbau. Die Weide war Gemeinland (ager compascuus), worauf jeder Bürger sein
Vieh nach Belieben treiben konnte. Die Ackerwirtschaft dagegen ruht, soweit wir historisch
zurückblicken können, auf dem privaten Grundeigentum. Daß es bei den Latinern in vor-
geschichtlicher Zeit eine Periode der Ackergemeinschaft gegeben habe, ist möglich, aber uner-
weislich . Allerdings weiß die römische Uberlieferung zu berichten, daß Romulus jedem
Bürger ein kleines Privatgut (herecium) von zwei jugera (das jugerum etwas mehr als
ein Viertel Hektar) zugeteilt habe. Wäre dieser Bericht zuverlässig, so würde er Acker-
gemeinschaft in irgendeiner Form voraussetzen 5; das heredium hätte für den Unterhalt einer
Familie bei weitem nicht ausgereicht. Allein die Erzählung von den zwei iugera überträgt
allem Anschein nach in die Gründungsgeschichte Roms einen Vorgang, der uns späterhin für
die unter ganz anderen Verhältnissen stattfindende Gründung von Bürgerkolonien bezeugt
1 Varro de L. L. V 143: oppida condebant in Latio Etrusco ritu.
* Uber diese Tatsache lassen die epochemachenden Untersuchungen W. Schulzes (Zur
Geschichte latein. Eigennamen, 1904) keinen Zweifel, mag auch manche Einzelheit unsicher sein.
* Uber die Rasse der Latiner ist hiermit nichts ausgesagt. Spracheinheit und Volkseinheit
bedeutet nicht notwendig Rasseneinheit. Welcher Rasse das Volk der Indogermanen angehörte
oder welche Rassenmischung ihm zugrunde lag, wissen wir nicht. Man darf daher nicht von indo-
germanichher „Rasse“ der Latiner reden, wie es Bruns in den früheren Auflagen der Enzyklo-
pädie tat.
BVagl. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus (2. Aufl. 1912) II S. 415 f.
* So Bruns in den früheren Auflagen (nach Mommsen).