Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

28 1. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
herleitete; und wenn etwa die eine Wölfin einen Hirsch geheiratet hatte und die andere einen 
Bären, so wurden die Untertotems Hirsch und Bär genannt, und die ursprüngliche mutterrecht- 
liche Totembeziehung wurde mit der Zeit vergessen. 
Ein anderer Grund machte sich geltend, als der Mangel der Nahrungsmittel die Familien 
zwang, das Weite aufzusuchen und sich in kleine Gruppen zu teilen. Hier konnte man das ur- 
sprüngliche System nicht festhalten, wonach das Kind die Vaterfamilie verleugnete und nur 
zur Mutterfamilie in Beziehung stand, so daß es nicht dem Vater, sondern dem Onkel gehörte; 
dieser Onkel war möglicherweise sehr fern, vielleicht ganz unbekannt, und so zeigten sich natur- 
widrige Verhältnisse. Dasselbe ergab sich auch, wenn etwa ein Stamm Kolonisten aussandte. 
Die Kolonisten konnten das Mutterrecht aus dem nämlichen Grunde nicht festhalten: die 
Kinder traten allmählich zum Vater in Beziehung, und die Beziehungen zum Onkel wurden 
zurückgedrängt oder auch ganz aufgegeben. 
Namentlich aber hat ein Grund wesentlich dazu beigetragen, das Mutterrecht zu zer- 
stören: das war die Raub= und Kaufehe. Wer seine Frau kraft Raubes oder Kaufes besaß, der 
hatte sie wie eine Sklavin und beanspruchte ihre Kinder, wie der Eigentümer der Kuh das Kalb 
als sein Eigentum beansprucht. Wie stark dieses Moment gewirkt hat, beweist der Umstand, daß 
es bei vielen Völkern Vaterrechtsehen und Mutterrechtsehen zugleich gibt: Vaterrechtsehen, 
wenn die Frau gekauft worden ist, Mutterrechtsehen, wenn der Kaufpreis nicht bezahlt werden 
konnte. 
§ 21. Entwicklung der Einzelehe. 
Aus der Gruppenehe hat sich die Einzelehe entweckelt und, wie es scheint, in viel- 
fältiger Weise. Ein nicht seltener Ubergang ist der von der Gruppenehe zur Vielmännerei: 
dieser Ubergang vollzieht sich von selbst, wenn der Mädchenmord häufig geübt wird und man nur 
eines der Mädchen der Familie am Leben läßt. Sind auf solche Weise in der einen Ehe fünf 
Söhne und in der anderen nur eine Tochter, so führt die Gruppenehe von selbst dazu, daß die 
fünf Männer zusammen eine Frau heiraten, und das ist die Vielmännerei, wie wir sie in ver- 
schiedenen Teilen Indiens, namentlich bei den Todas, bei den Singhalesen und am 
Himalaya, finden. Diese Vielmännerei geht nicht selten über in die Wechselehe, die darin 
besteht, daß eine Frau zur selben Zeit immer nur einen Mann hat, diesen aber von Zeit zu 
Zeit, z. B. alle paar Monate, wechselt; so ist es z. B. bei den Nairs in Südindien, und 
bei manchen indischen Stämmen wird dies dadurch verdeckt, daß die Frau sich mit einer Pflanze 
verheiratet und „daneben“ wechselweise mit einer Reihe „menschlicher“ Mänmer verkehrt. Bei 
Kulturvölkern lebt diese Wechselehe fort in Gestalt des prostitutionsweisen Götterkultes, wie 
in Babylon, bei den Phöniziern und Syrern. 
Eine wichtige Entwicklung liegt darin, daß die Ehe monandrisch gestaltet wird, indem 
die Frau nur mit dem einen Mann verheiratet ist. Diese monandrische Einrichtung mag ver- 
schiedene Gründe haben; einer der Gründe ist der in jenen Zeiten äußerst häufige Frauen- 
raubt:. Die Frau wird geraubt mit roher Gewalt, meist in der Ferne; sie ist eine Art von 
Sklavin, und ihre Kinder gehören dem Mann als ihrem Herrn. Natürlich führte dieser Frauen- 
raub leicht zu Kriegen und Familienfehden, die dann oft lange fortwüteten und ihre Opfer 
heischten, aber schließlich mit irgendeiner Versöhnung endeten. Die Versöhnung wurde, ganz 
entsprechend dem materiellen Zuge des Menschen, damit besiegelt, daß der Familie der ge- 
raubten Frau ein Gegenwert gegeben wurde; der Gegenwert konnte in einer anderen Frau 
bestehen oder auch in Geld oder sonstigen Werten. 
Ist die Entwicklung erst einmal so weit gediehen, dann ist es nur ein Schritt, daß man 
sofort damit beginnt, über den Frauenpreis in Unterhandlung zu treten. Der Raub wird mehr 
oder minder zur abgekarteten Sache, der Kampf wird zunächst zur Rauferei, die nur-bis zu einem 
bestimmten Ende geführt wird, worauf die Partei des Mädchens von selbst nachgibt, er wird 
zum Scheinraub und zur Raubzeremonie, in welcher nur noch einige Züge des Raubes nach- 
klingen; solche finden sich aber bis in die neueste Zeit, so daß z. B. die Frau beim Hochzeitszug 
  
1 Hierüber bereits Recht als Kulturerscheinung S. 8 f. Die zeitschr. f. vergl. Rechtswissensch. 
bietet darüber reiches Material; vgl. z. B. für Rumänien Draganescu in XXIII S. 70.
	        
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