Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 325 
Unwahrscheinlichkeiten und inneren Widersprüchen leidet, sondern vor allem deshalb, weil es 
überhaupt als ausgeschlossen gelten muß, daß man in der Zeit, aus der unsere Berichte stammen, 
eine derart ins einzelne gehende zuverlässige Kunde über den Gang einer gesetzgeberischen 
Aktion des 5. Jahrhunderts besaß. Die Geschichte der Virginia, die Gesandtschaft nach Athen! 
u. a. ist schon lange in Zweifel gezogen worden. Neuerdings aber haben der italienische Histo- 
riker Pais und der französische Jurist Lambert auf Grund eindringender Kritik der Quellen 
nicht nur Einzelheiten, sondern die Tradition im ganzen verworfen 2. Diese Schriftsteller be- 
schränken ihre Skepsis nicht auf die traditionelle Entstehungsgeschichte der zwölf Tafeln; sie 
erstrecken sie auf das Datum, ja auf die Authentizität der ganzen Gesetzgebung. Pais bestreitet 
zwar nicht, daß die zwölf Tafeln Bestandteile enthalten, die noch dem 5. Jahrhundert ange- 
hören, auch nicht ihren Gesetzescharakter; aber er unterscheidet in ihnen ältere und jüngere 
Schichten, hält es für wahrscheinlich, daß der endgültigen Redaktion der Gesetzgebung frühere 
Redaktionen vorausgingen, und setzt jene Schlußredaktion etwa anderhalb Jahrhunderte später, 
als die Uberlieferung will, in die Zeit des Appius Claudius (Zensor 312), in dem er das Urbild 
des Dezemvirs erblickt. Noch weiter geht Lambert: er sieht in den zwölf Tafeln über- 
haupt keine Gesetzgebung, sondern eine in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. 
entstandene private Sammlung alter Rechtsregeln und Rechtssprichwörter und bezeichnet 
als deren wahrscheinlichen Urheber den Sex. Aelius Paetus Catus (Konsul 198), den Ver- 
fasser eines Werks über die zwölf Tafeln, dem alle Späteren ihre Kenntnis davon entnommen 
hätten. Diese Aufstellungen können nicht gebilligt werden 2. Zuzugeben ist die Möglichkeit, 
ja Wahrscheinlichkeit, daß — eine Erscheinung, die sich auch bei anderen alten Gesetzgebungen 
beobachten läßt — in den ursprünglichen Zwölftafeltext nachträglich einzelne Rechtssätze späterer 
Entstehung eingeschoben worden sind. Davon abgesehen, besteht kein ausreichender Grund, 
weder an dem Gesetzescharakter der zwölf Tafeln noch auch daran zu zweifeln, daß dies Gesetz 
mit im großen und ganzen dem Inhalt, der uns überliefert ist, bereits um die Mitte des 
5. Jahrhunderts erlassen worden ist. Dieser Inhalt postuliert zum Teil gerade die Zustände, 
die wir um 450 v. Chr. im römischen Gebiet vorauszusetzen haben. Wenn jene Schriftsteller 
demgegenüber einzelne Bestimmungen hervorgehoben haben, die auf eine weiter vorgeschrittene 
Kultur hindeuten sollen, so handelt es sich dabei, soweit nicht an Einschiebungen der eben er- 
wähnten Art zu denken ist, teils um Mißverständnisse, teils um unbewiesene und unbeweisbare 
Behauptungen. Auch der Einfluß griechischen Rechts, der in gewissen Zwölftafelsätzen un- 
verkennbar hervortritt und schon den Alten auffiel, ist durchaus nicht geeignet, Zweifel an dem 
hohen Alter des Gesetzes zu erregen; er erklärt sich leicht aus den Verkehrsbeziehungen, die auch 
schon im 5. Jahrhundert zwischen dem Emporium Latiums und Großgriechenland wie auch 
dem von griechischer Kultur durchtränkten Etrurien bestanden haben. Wenn endlich Lambert 
eine Gesetzgebung überhaupt für unvereinbar erklärt mit der religiösen Auffassung vom Wesen 
des Rechts, die im 5. Jahrhundert und noch lange darüber hinaus herrschend gewesen sein müsse, 
so muß dem entgegnet werden, daß sich ein einigermaßen sicherer Beweis dafür, daß man 
um 450 der ganzen Rechtsordnung noch religiösen Charakter zugeschrieben habe, nicht er- 
bringen läßt; die Umwälzungen der vorausgegangenen Zeit müssen vielmehr die Volks- 
anschauung hier auf das stärkste in entgegengesetzter Richtung beeinflußt haben. Umgekehrt 
sind die Ergebnisse, zu denen Pais und Lambert gelangen, überaus unwahrscheinlich. Es 
wäre nicht zu verstehen, wie eine etwa um 300 redigierte Gesetzgebung Bestimmungen auf- 
nehmen konnte, die auf längst vergangene Zustände zugeschnitten waren; und ganz undenk- 
bar scheint uns, daß gar ein Schriftsteller des 2. Jahrhunderts, wo Rom bereits im hellen 
Lichte der Geschichte stand, den Römern ihr Grundgesetz erfunden und damit allgemeinen 
1 Bgl. über sie Boesch, de XII Tab. lege a Graecis petita, Gött. 1893. 
„ Pais, Storia di Roma I (1898) p. 572 ff., I (1899) p. 632 ff. Lambert, Nouv. 
rev. hist. de droit XXVI p. 149 ff., Le probleme de corifine des XII tables (extr. aus der rev. 
Bén. de droit 1902), I’histoire tradit. des XII tables (mél. Appleton 1903). Übersicht der durch 
diese Schriften hervorgerufenen Literatur bei Kalb, Jahresber. klass. Altertumswiss. 134, S. 17 f., 
auch bei Bonfante, storia del dir. Rom. p. 569. Dazu neuerdings wieder Pais, Studi 
storici II (1909) p. 1 ff., Binder, Die Plebs (1909) S. 488 ff. 
* Vgl. insbesondere gegen Lambert: Lenel, 8R6. XXXIX S. 498ff.
	        
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