Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 29 
heimlich verschwindet, daß dabei Streitigkeiten entstehen, daß die Frau über die Schwelle mit 
scheinbarer Gewalt getragen wird, daß sie in Stöhnen und Klagen ausbricht, u. a. 7 
Nachdem auf solche Weise der Frauenraub sich ausgelebt hat, tritt der Frauenkauf 
an seine Stelle. Er ist über die ganze Erde verbreitet und überall der Vorbote gesitteter ehe- 
licher Verhältnisse. Allerdings führt auch diese Eheform zur vollen Untertänigkeit der Frau; 
doch ist es möglich, ihre Abhängigkeit zu lindern, z. B. dadurch, daß man den Mann nicht den 
vollen Frauenpreis zahlen läßt, sondern ihm einen Teil (das Talikulo der Malaien) erläßt; die 
Folge ist, daß der Familie noch immer einige Rechte an der Frau verbleiben und die Frau 
immer noch an ihr einen Rückhalt hat. Im übrigen wird die Kaufidee bei den Völkern bis aufs 
Außerste durchgeführt; so gilt es bei den Negern in unseren Kolonien als Grundsatz, daß der Frauen- 
preis zurückbezahlt werden muß, wenn die Frau den Mann ohne Grund verläßt, oder wenn 
sie ohne Kinder stirbt; doch kann die Familie sich dadurch helfen, daß sie dem Mann eine andere 
Frau kaufpreislos überantwortet. Hiernach gelten die Töchter als Segen und Reichtum, und 
bei den Kafirs kommt es vor, daß Leute, die einen großen Viehstand haben, und Leute mit vielen 
Töchtern sich zu einer Art von Gesellschaft vereinigen, wo der Viehstand auf der einen und der 
Mädchenstand auf der anderen Seite die Gesellschaftseinlage bildet. 
Eine der interessantesten Entwicklungen ist es nun, wie der Frauenkauf sich wiederum 
zersetzt hat und zum Scheinkauf geworden ist, auf verschiedenem Wege. Vielfach wurde 
der Frauenpreis, der ursprünglich an den Vater oder Onkel der Frau fiel, der Frau selber über- 
lassen, und er wurde so zum Frauengut oder Wittum. Sehr häufig bestand auch der Brauch, daß 
die Eltern der Frau dem Manne eine Aussteuer gaben, welche den Frauenpreis aufwog oder 
ihn sogar noch bedeutend überbot. So verschwand allmählich der Frauenpreis, bei den Indo- 
germanen ebenso wie bei den Semiten: bei den Hindus wurde er zum Frauengut, Culka, bei 
den Hebräern zur Ketuba, bei den Arabern und Islamiten zum Mahr. Im altbabylonischen 
Rechte hatte der Bräutigam dem Schwiegervater eine Summe, das tirhatu, zu bezahlen, dafür 
brachte die Frau ihr Frauengut, sirikrtu, mit. Das tirhatu fiel später weg, das siriktu blieb 
und spielte im neubabylonischen Recht eine sehr große Rolle. 
Jetzt, nach Schwinden des Kaufgedankens, war dem ethischen Zug der Entwicklung freier 
Spielraum gegeben. So erstand die Eheform, welche mystisch eine seelische Verbindung der 
beiden Ehegatten herbeizuführen suchte: Blutverbindung, gemeinsames Essen und Trinken 
(bei den Japanern der San-Sankudo, d. h. das dreimalige Leeren dreier Becher, bei den Hindus 
die Reisvermischung); so erstand die priesterliche Eheschließung, wie bei den Hindus, wo diese 
Gottesehe in verschiedenen Formen vorkommt, und wo der Brahmane die heiligen Sprüche 
selbst bei den niederen Kasten vorliest, die sich ihm mur in einiger Entfernung nahen dürfen. 
Neben die kirchliche Ehe trat später die standesamtliche Zivilehe, welche unser Kultur- 
leben beherrscht. 
Diese Geschichte der Ehe zeigt aufs klarste, wie sich die Kulturentwicklung unbewußt voll- 
zieht (loben S. 8). „Der Erste, der eine Frau raubte, war“ ein gewalttätiger Unhold, aber er 
war „ein Wohltäter der Menschheit.“ 
Ein ährnlicher Fortschritt läßt sich auch in der Ehewahl dartun. Zunächst ist die Ehe- 
genossenschaft von selbst gegeben. Die Gruppen heiraten zusammen, später heiratet ein Einzel- 
wesen der einen Gruppe ein Einzelwesen der anderen; das geschieht aber nicht nach eigenem 
Belieben, sondern nach dem Wunsch der Gruppe oder der von der Gruppe abgezweigten Familie. 
So ist noch auf weitem Gebiete die Wahl des Lebensgefährten in den Willen der Familie ge- 
setzt: wichtige Interessen der Familie sind mit der Ehe verbunden, und die Familie läßt sich 
darum das Belieben des Einzelnen ebensowenig gefallen als heutzutage die Herrscherfamilie 
das Belieben des Thronfolgers in der Wahl der künftigen Königin. 
Ein großer Fortschritt ist es bereits, wenn beim Frauenkauf der Mann freie Hand be- 
kommt und für sein Geld, wie er beliebig Kuh und Kalb kaufen kann, sich auch ein Weib zu ver- 
schaffen vermag. Die Oberherrschaft des Geschlechts und der Familie wirft sich jetzt auf die 
Frau: die Frau ist Ware, und zwar geldwerte Ware in der Hand der Familie, und der Frauen- 
preis gehört zu den Haupteinkünften des Familienhauptes. 
1 Darüber vielfache Nachweise in Zeitschr. f. vergl. Rechtsw.
	        
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