Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

328 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
Element tritt in eigener neuer Form neben oder nach dem anderen auf, das nationale in 
der priesterlichen Interpretation der XII Tafeln, das universale in der Entwicklung des ius 
gentium, das politische in der eigentlichen Volksgesetzgebung, das rein juristische Utilitäts- und 
Aquitätselement in den prätorischen Edikten und in der aufkeimenden Wissenschaft. 
Zunächst von der Interpretation der XII Tafeln. Die XII Tafeln blieben in den nächsten 
Jahrhunderten die Quelle des Rechtes. Formal sind sie in ihrer Gesamtheit nie aufgehoben 
worden. Manche von ihren polizeilichen Bestimmungen, wie die über den „Umgang“ (ambi- 
tus) bei Wohnhäusern (7, 1), sind bald in Vergessenheit geraten. Im öffentlichen Rechte scheute 
man sich nicht, einzelne ihrer Sätze aufzuheben, wie die Unebenbürtigkeit der Plebejer, angeb- 
lich durch die lex Canuleia (445). Dagegen im Privat= und Prozeßrechte ist das Recht der 
XII Tafeln durch neuere Gesetze, Auslegung und prätorisches Edikt wohl ergänzt und tatsächlich 
beiseite geschoben, aber nur in seltenen Fällen — lex Aquilia: D. 9, 2, 1 pr.; durch Gewohnheit 
(tacitus Consensus) nach dem freilich problematischen Zeugnis des Gellius XX 10 — abgeändert 
worden. Dieses Festhalten an den XII Tafeln kann nicht bloß, wie manche meinen, darin 
seinen Grund haben, daß sie aufgezeichnetes Stammesrecht enthalten; denn tatsächlich wird auch 
das Privatrecht weitergebildet. Vielmehr erklärt sich die Zähigkeit doch wohl aus der Ent- 
stehung des Rechtsbuches: es war aus einer Einigung beider Stände herwvorgegangen; so er- 
schien es als eine Art Grundgesetz, und auch das Wort wurde wichtig, weil es ein geschriebenes 
Wort war. Darauf beruht auch mit die strikte Wort= und Buchstabenauslegung der 
XII Tafel-Gesetze, die uns bei den Römern der folgenden Jahrhunderte oft in befremdlicher 
Weise entgegentritt. Man hatte Sicherheit und Festigkeit des Rechts durch das geschriebene 
Gesetz erlangen wollen. Kein Wunder, daß man sich jetzt streng auf das geschriebene Wort 
steifte und nichts gelten ließ, was daraus nicht abgeleitet werden konnte. Die XII Tafeln legten 
selber geradezu den Grund dazu, teils durch die ängstlich-sorgsame Fassung ihrer Vorschriften, 
teils durch das Prinzip, das sie für das negotium per aes et libram und für Legate ausstellten: 
uti lingua nuncupassit, ita ius esto, und uti legassit, ita ius esto. Damit war auf den frag- 
lichen Gebieten die Souveränität der Privatwillenserklärung im Rechtsverkehr anerkannt, 
zugleich aber auch der Grundsatz des gesprochenen Wortes (das Gesagte gilt, und nur 
das Gesagte gilt) und damit der Wortauslegung für die Rechtsgeschäfte scharf hingestellt. 
Natürlich hatte man auch schon vor den XII Tafeln auf das Wort ein großes Gewicht gelegt, 
eine Erscheinung, die in den Anfängen der Rechtsentwicklung bei vielen Völkern wiederkehrt:; 
aber die Kodifikation mußte die Neigung zum Formalismus wesentlich verstärken. 
Die Fortbildung des Rechts hat hiernach in der nächstfolgenden Zeit einen gewissen 
formalistischen und scheinbar engherzigen Charakter. Das Wort der Gesetze, der Prozesse, der 
Verträge, der Testamente scheint alles zu beherrschen. Man würde aber irren, wollte man 
darin nur kleinliche Buchstabenklauberei sehen. Das eigentlich Treibende sind stets die prak- 
tischen Bedürfnisse — man sucht diesen nur durch den Anschluß an das feste Wort eine sichere 
gesetzliche Grundlage zu geben. Von diesem Standpunkte aus hat man die drei Hauptrichtungen 
dieser Rechtsbildung zu beurteilen. 
1. Zunächst die Interpretation der XII Taofeln selber. Darunter ist nicht bloß 
die Erklärung der einzelnen Worte und Sätze zu verstehen, sondern auch die Feststellung von 
Rechtsregeln nach ihnen und die Schöpfung neuer Rechtssätze aus ihnen. So bildete man z. B. 
das Intestaterbrecht durch Interpretation der Worte suus heres und proximus agnatus aus, 
die Usukapion aus den Worten usus auctoritas, die Emanzipation und Adoption aus der Be- 
stimmung über den Verkauf der Kinder; dabei wurde der Satz der XII Tafeln, der nur vom 
Haussohne sprach (4, 2), mit Bewußtsein unrichtig auf diesen beschränkt: Tochter und Enkel 
sollten durch einmaligen Verkauf frei werden. 
2. Die Bildung von Formeln für die verschiedenen Rechtsgeschäfte. 
Es sind Formeln, die einerseits scharf und bestimmt den allgemeinen Hauptinhalt jedes Ge- 
schäfts feststellten und andrerseits doch biegsam genug waren, um Zusätze nach den besonderen 
Intentionen der einzelnen Fälle zuzulassen, so beim negotium per aes et libram, bei Stipu- 
lation, Erbeinsetzung, Legat usp. Daß dabei im ganzen das Prinzip der Festigkeit überwiegend 
war gegen das der Biegsamkeit, kann nach dem Obigen nicht auffallen.
	        
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