3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 339
VI. Die Prätur, die Beamtenedikte und die Gerichtspraxis.
826. Rechtsstellungdes Prätors. Es ist schon oben bemerkt, daß die Volks-
gesetzgebung sich mit dem Privatrechte wenig befaßt habe, dessen Weiterbildung vielmehr der
Gewohnheit und der Fürsorge der Beamten, namentlich der Prätoren, überlassen blieb. Diese
prätorische Rechtsbildung ist etwas höchst Eigentümliches, ohne alles Seitenstück bei uns, aber
einer der Grundpfeiler der Größe des römischen Rechts. Zu ihrem Verständnisse muß man
von der allgemeinen Einrichtung der damaligen römischen Rechtspflege und der Stellung des
Prätors in ihr ausgehen.
Die Rechtspflege im römischen Bürgerstaate war von der heutigen wesentlich verschieden.
Es gab nicht mehrere Gerichte nebeneinander mit abgegrenztem Sprengel (die praefecti jure
dicundo sind Vertreter des Prätors in weiter entfernten Ortschaften), und es bestand kein ge-
ordneter Instanzenzug. Man hatte, abgesehen von der beschränkten Marktgerichtsbarkeit der
kurulischen Adilen, überhaupt nur einen Justizbeamten, den Prätor (späterhin die beiden
Prätoren), mit seinen Gehilfen, den Geschworenen. Dieser Prätor hatte aber eine Stellung,
wie sie in unserer Gerichtsverfassung gar keine Analogie findet. Er hatte einerseits eine Macht,
wie bei uns kein Justizminister, denn er war collega consulum und hatte wie diese das volle
imperium. Andererseits hatte er weniger Gewalt als ein heutiger Amtsrichter; denn er konnte
zwar die Annahme einer Sache ablehnen (denegatio actionis), selbst aber keine rechtskräftige
Entscheidung geben; diese stand ausschließlich, sei es ad hoc zu ernennenden Geschworenen, sei
es ein für allemal bestellten Richterkollegien zu. So zerfiel der römische Zivilprozeß immer
in zwei Stadien: das einleitende Verfahren vor dem Magistrat (in iure) und der eigentliche
Prozeß (iudicium) vor Geschworenen oder Richterkolleg.
Als Geschworene finden wir bald den iudex i. e. S., diesen immer in der Einzahl, bald
einen oder mehrere arbitri, bald recuperatores, diese immer in Mehrzahl. Als ständige Richter-
kollegien: die centumviri, die durch Auswahl von je drei aus den 35 Tribus gebildet (Fest. epit.
p. 54), und die decemviri stlitibus iudicandis, die in Tributkomitien aus beiden Ständen ge-
wählt werden, also magistratus minores sind 1. Wann diese verschiedenen Richterarten auf-
kamen und wie sich ihre Zuständigkeit gegeneinander abgrenzte, ist höchst bestritten. Das Ge-
schworeneninstitut ist sicher uralt und darf keineswegs als eine zur Einschränkung der Beamten-
willkür eingeführte republikanische Neuerung aufgefaßt werden. Es hat sich wahrscheinlich
(s. oben § 10 g. E.) aus Schiedsgerichten entwickelt, deren Einsetzung ursprünglich durch reinen
Privatakt, später, aber immer noch in sehr früher Zeit, unter Beteiligung der Obrigkeit, des
Königs und dann der Prätoren, erfolgte. Der Ursprung der recuperatio liegt vielleicht in den
internationalen Schiedsgerichten (Fest. p. 274). Das Zentumviralgericht ist wohl erst nach
dem Jahre 241, wo die Zahl der 35 Tribus voll wurde, entstanden. Die Dezemvirn, von denen
viele ohne Grund (s. N. 1) annehmen, daß sie mit den Tribunen zusammengehören und zum
Schutze der Plebejer eingeführt seien, setzt Pomponius erst ins 6. Jahrhundert der Stadt. Sie
waren, wie wir wissen, für Freiheitsprozesse zuständig, die centumviri für das ganze Gebiet
der Vindikationen 2. Rekuperatoren werden anscheinend in schleunigen Sachen gegeben, z. B.
bei Besitzstreitigkeiten, Deliktsklagen, Freiheitsprozessen, aber nirgends ausschließlich, sondern
überall in Konkurrenz mit dem unus judex, dessen Zuständigkeit offenbar ganz allgemein war
und auch das Gebiet der Vindikationen mit umfaßte 3. In allen diesen Fällen ist die Scheidung
zwischen Magistrat und Richtern in der Weise geordnet, daß jener die Einleitung und Kon-
stituierung des Streites zu besorgen hatte, die weitere Untersuchung und das Urteil aber Sache
des oder der Richter war, und erst die Exekution wieder in die Zuständigkeit des Beamten fiel.
1 Sie darfen mit den plebejischen decemviri bei Liv. III 55, 7 nicht identifiziert werden.
Bgl. über sie Wlassak, Röm. Prozeßgesetze I (1888) S. 139 ff. Girard, OCrg. judic. I
p. 159., Kübler, bei ! — s. v. decemviri unter 3.
: Uber sie vyl. (Wlaf sak, bei Pauly-Wissowa s. v. centumviri, Martin, Le trib. des
centumvirs (1904). Nicht überzeugend Jobbé-Duval, NRH. 1904 p. 357 ss., 1905 p. 1 88.
nler die Brage, ob die Lommwerten der centumviri an einen gewissen Streitwert gebunden war,
. Lenel, Ed. perp. 2. Aufl. S. 5 504 ff.
5 Bal. Wlassak, Roͤm. Prozeßgesetze II S. 298 ff.
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